0615 - Die Satans-Vision
Freund.«
»Gut.«
Zielsicher umfaßte er den kantigen, tiefroten und leicht violett angehauchten Gegenstand. Zuerst ließ er seine Handflächen an den Seiten des Würfels, dann hob er ihn langsam an. Ich wunderte mich darüber, sagte aber nichts und konnte nur anerkennend nicken, als er ihn auf die Ikone stellte, und zwar dorthin, wo die Frauengestalt zu sehen war, die nun verdeckt wurde.
»Ist es richtig?« fragte er.
»Ich hätte es nicht anders gemacht, Abbé.«
»Ja, es ist unser einzige Chance.« Während seiner Antwort streichelte er die Seiten, als wollte er sie durch die Wärme seiner Haut ebenfalls anwärmen.
Was nun folgte, wußte ich.
Der Würfel würde seine Magie entfalten. Er würde sich auf die Gedanken des Menschen einstellen, diese intensivieren und tatsächlich so verdichten, daß sie sich in seinem Innern zu einem Bild zusammenformten. Es war nicht erklärbar, das gehörte in das Gebiet der Mystik, aber der Würfel hatte uns schon oft geholfen.
Ich überließ dem Abbé voll und ganz das Feld. Er sollte versuchen, die Lösung zu bringen. Wenn die Frau auf der Ikone überhaupt nicht in das Motiv hineinpaßte, würde es auch der Würfel merken.
Noch geschah nichts…
Die Zeit verging sehr langsam. Ich hatte den Eindruck, als würden die Sekunden träge dahinschleichen.
An der Spannung in seinem Gesicht las ich ab, wie konzentriert der Abbé vorging. Seine Lippen hoben sich kaum von der übrigen Hautfarbe ab, sie blieb blaß und bleich.
Plötzlich zuckte er zusammen. Mir lag die Frage auf der Zunge, ich brauchte sie nicht zu stellen, weil Bloch von allein eine Erklärung gab.
»Es ist etwas geschehen, der Würfel hat reagiert. Er… er hat sogar abstoßend gehandelt. Er spürt, daß sich auf der Ikone etwas Böses befindet.«
»Hast du gedanklichen Kontakt bekommen?« wisperte ich.
»Ja, John Sinclair, ja. Die Frauenfigur ist nicht tot, obgleich sie nicht mehr lebt. Von ihr geht etwas Böses aus. Ich habe den Eindruck, als hätte sie damals, als die Ikone hergestellt wurde, zum Dunstkreis der Hölle gehört. Hexe!« keuchte er plötzlich. »Sie ist eine Hexe gewesen, die der Künstler aufgemalt hat, damit das heilige Motiv ihren Bann brechen konnte. Verstehst du das? Man hat hier magisch manipuliert und mit Wissen des Teufels, wie ich glaube.«
»Welche Rolle spielt er?«
»Eine hinterlistige, eine raffinierte!« stieß der Abbé hervor. »Er hat sich nicht geändert, denn er ist all die Jahrhunderte über gleichgeblieben. Das ist grausam und schlimm.«
»Und weiter?«
»Noch spüre ich es nur, ohne es sehen zu können, aber es wird sich ändern. Der Teufel hat dieses Bild nie aus dem Blick gelassen, John, er ist immer in der Nähe gewesen und wenn es nur im Geist dieser Hexe war. Meine Güte, jetzt gibt mir der Würfel die Antworten klar und deutlich. Der Geist dieser fremden Hexe irrte ruhelos umher, bis er einen Körper fand. Eben den Körper der Anne Geron. Er steckt in ihr.«
»Aber sie konnte das Kreuz berühren!« rief ich.
»Das stimmt, weil es der Geist des Bösen noch nicht geschafft hat. Sie ist in ihrem Innern zu gut, ihre Seele ist zu sauber. Der Satan hat es nicht geschafft, sie an sich zu reißen. Es ist ein Skandal für die Frau, sie hat ungeheuer zu leiden. In ihrem Innern finden schreckliche Kämpfe statt, und der fremde Geist hat es bisher nur geschafft, ihr die Visionen zu schicken. Der Mann mit dem Messer, der Mann aus dem Dunkel, das ist der Satan, John. Einen kleinen Plan hat er sich ausgedacht, aber auch er ist Teilstück des Ganzen.«
»Und was will er genau?«
»Ich kann es dir sagen. Die Frau. Er will sie so haben, wie damals die Hexe gewesen ist. Auch sie, die mir Unbekannte, besaß die langen, schwarzen Haare, sie sah ähnlich aus, und der Geist des Teufels schwebt in unserer unmittelbaren Nähe. Ich habe es gewußt, als ich die Blitze über der Kathedrale sah. Sie hat uns gewarnt, wir waren wachsam, aber wir haben nicht erfassen können, welche Gefahr uns drohte.«
»Nur uns?«
»Uns allen, John, Anne Geron eingeschlossen!«
Auf diesen Satz hatte ich gewartet. Ich schnellte so heftig hoch, daß der Stuhl umkippte. An der Tür rief ich dem Abbé noch eine Frage zu. »Wo ist sie – wo?«
»Oben im Gästeraum…«
Ich stürmte in den halbdunklen Flur. Das Licht spiegelte sich auf dem Steinboden und ließ ihn aussehen wie dunkles Eis. Fast so schnell wie ein Schlittschuhläufer raste ich darüber hinweg und jagte mit gewaltigen Sätzen die Treppe
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