0615 - Die Satans-Vision
Hilfesuchend schaute sie mich an. Ich nickte ihr beruhigend zu, aber sie blieb so nervös und stieß letztendlich die eine Frage aus.
»Was will der Mann von mir?«
Keiner gab ihr eine Antwort. Selbst der Abbé blieb stumm, nur ging er immer weiter.
»Bitte…«
Plötzlich blieb er stehen. So nahe an Anne, daß er sie mit der ausgestreckten Hand hätte greifen können, sprach, aber er meinte nicht sie, sondern mich.
»Wer ist diese Person, John?«
»Sie heißt Anne Geron.«
»Weshalb hast du sie mitgebracht?«
»Weil sie sehr wichtig ist.«
»Vielleicht, John, vielleicht. Aber sie ist auch gefährlich, hast du das nicht gespürt?«
»Nein, so sah ich sie nicht an. Sie ist für mich nicht gefährlich. Sie ist eben etwas Besonderes, finde ich.«
»In ihr steckt nicht nur Gutes. Diese Frau ist von einer gefährlichen Aura umgeben. Wenn du sie nicht spürst, John, ich merke es.«
»Abbé, sie war in der Lage, mein Kreuz anzufassen. Sie ist also nicht schlecht.«
»Das habe ich auch nicht so gesagt. Vielleicht ist das andere in ihr stärker, als man denkt. Ich sage dir, John, wir sollten vorsichtig sein. Sie ist der Falke zwischen den Tauben.«
Diesen Vergleich hätte ich nie gewagt, aber ich wollte zunächst nicht widersprechen, ging auf Anne zu und sagte: »Sie steht unter meinem Schutz, ihr solltet sie wie einen Gast behandeln.«
Der Abbé ging zwei Schritte zurück. »Das werden wir auch, John. Es soll ihr an nichts fehlen.«
Anne drehte mir ihren Kopf zu. »Ich bin müde, John, ich bin sehr, sehr müde.«
»Möchtest du dich hinlegen?«
»Gern.«
Es war mir recht, denn Anne sollte nicht dabeisein, wenn ich mein Mitbringsel zeigte. Der Abbé wies einen der Templer an, ihr ein Gästezimmer in der oberen Etage des Hauses zu überlassen.
»Soll ich mitgehen, Anne?«
»Nein, du kannst bleiben, ich bitte dich. Aber schau mal nach mir, ob alles in Ordnung ist.«
»Das werde ich. Schlaf gut.«
»Danke.«
Der Templer trug ihren Koffer. Ich schaute den beiden so lange nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann wandte ich mich wieder an den Abbé. »So kenne ich dich nicht, Freund.«
»Ich habe mich auch gewundert, John, aber es kam über mich wie ein Blitzstrahl. Ich merkte plötzlich, daß sie nicht zu dir und auch nicht zu mir paßte. Sie ist anders, aber wir wollen nicht darüber sprechen. Es war gut von dir, uns an die Gastgeberpflichten zu erinnern. Komm, berichte mir, weshalb du die weite Reise auf dich genommen hast.«
»Weil ich dir etwas schenken will.«
»Und was ist so wichtig, daß du es uns geben willst?«
»Eine alte Ikone.«
»Oh.«
»Laß uns in deinen Raum gehen, Abbé. Dort kann ich dir alles berichten.«
Die anderen Templer gingen nicht mit. Sie wußten genau, wie sie sich zu verhalten hatten.
Ich kannte das große Zimmer des Abbé. Er bewegte sich hier im Haus wie ein Sehender, setzte sich auf seinen Platz an den Tisch und wartete ab, was geschah.
Der schmale Aktenkoffer lag schon auf der Platte. Ich öffnete ihn und holte die Ikone heraus. Sie fand ihren Platz vor dem Abbé, damit dieser sie berühren konnte.
Er hatte sie bereits an den Seiten berührt. Ich erklärte ihm, welches Motiv die Ikone zeigte, und der Abbé machte sich daran, sie zu ertasten. Er ging sehr sorgfältig vor; seine Fingerkuppen waren nicht mehr als ein Hauch, wenn sie über die wertvolle Intarsienarbeit hinwegglitten. Es war einfach erstaunlich zu sehen, welche Informationen der Abbé aufnehmen konnte, denn er erklärte mir das Bild so genau, daß er sogar die Frauengestalt herausfand.
»Sie ist anders, sie steht auch weiter von den anderen entfernt!« flüsterte er.
»Das stimmt.«
»Woher hast du sie?«
»Ich werde dir jetzt eine lange Geschichte erzählen und es trotzdem kurz machen. Und ich möchte dich gleichzeitig um dein Schweigen bitten, denn es wissen nur sehr wenige Menschen dar über Bescheid.«
»Ich verspreche es und höre, John.«
Es dauerte einige Minuten, bis ich ihm von dem Templer-Schatz berichtet hatte. Der größte Teil des Gesichts blieb bei dem Abbé unbewegt, nur die Mundwinkel bewegten sich, ein Zeichen, wie sehr er unter der Spannung stand.
Als ich geendet hatte, da sagte er nichts. Der Mann mußte zunächst über die Worte nachdenken.
»Du hast ihn also gefunden?«
»Ja.«
»Dann gehört er dir, dem Sohn des Lichts.«
»Nein, Abbé, er gehört uns allen. Ich brachte die Ikone mit, damit ihr sie verkauft und zu Geld kommt…«
»Das ist aber schlimm.«
»Wie
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