0615 - Die Satans-Vision
dann kann ich Sie ja mitnehmen. Sie müssen mir nur sagen, wohin ich fahren soll. Wir könnten allerdings auch zuvor etwas essen gehen.«
»Hunger habe ich nicht.«
Er nickte. »Das kann ich mir vorstellen.«
Durch einen Seiteneingang verließen sie die Passage und traten hinaus in den kalten winterlichen Wind, der von den Bergen herkam, nach Schnee roch und durch die Straßen fegte.
Auf den Gipfeln der Berge lag bereits eine weiße Schicht, während die große Stadt Toulouse bisher davon verschont geblieben war.
Aber kalt war es geworden.
Anne stellte den Mantelkragen hoch und hakte sich bei ihrem neuen Bekannten ein. Sie war selbst Realist genug, um einzusehen, daß sie von einem Extrem ins andere gefallen war.
Erst hatte sie diesen Menschen als schlimmen Mörder gesehen, nun brachte sie ihm Vertrauen entgegen. Schon beim ersten Zusammentreffen hatte sie so etwas wie ein Band gespürt, das sie beide miteinander umschlang.
»Einkäufe wollen Sie nicht mehr machen?«
»Nein, Pierre, ich will in meine kleine, gemütliche Wohnung. Sie liegt in der Altstadt. Mit viel Glück habe ich sie bekommen, unter dem Dach, ein kleines Atelier.«
»Sie unterrichten ja Kunst. Malen Sie selbst?«
»Als Hobby.«
Er lächelte sie an. »Dann ist es eine Ehrensache, daß Sie mir die Bilder zeigen.«
»Wenn Sie wollen.«
An einer Ampel blieben sie stehen. Rodin deutete nach vorn.
»Mein Wagen steht in der Tiefgarage. Es sind nur mehr ein paar Schritte, dann haben wir es geschafft.«
Mit dem Lift fuhren sie hinab in das dritte Parkdeck, wo der große Renault des Mannes stand. Er öffnete Anne die Tür, die lächelnd einstieg und ihren Kopf zurücklegte.
»So, meine Liebe, den Weg zu Ihnen kenne ich nicht. Ich muß ehrlich gestehen, daß mir die Altstadt selbst noch ziemlich unbekannt ist.«
»Fahren Sie nur, ich sage Ihnen Bescheid.« Dann tastete sie nach der Hand des Mannes und sagte leise, als sie seinen erstaunten Blick bemerkte: »Danke, Pierre, danke für alles.«
Er hob nur die Schultern und wunderte sich darüber, daß er in seinem Alter noch rot wurde…
***
»Ich kann es einfach nicht fassen oder begreifen«, sagte Pierre Rodin. »Was können Sie nicht fassen?«
»Die Wohnung ist toll, eine richtige Schatzkammer. Wenn ich an meine kalte Hochhausbude denke, dann möchte ich sie am liebsten zertrümmern. Hier ist alles so gemütlich. Der Kerzenschein, die alten Möbel, die Bilder, die Staffeleien, die Tischdecken, das Porzellan, die schrägen Fenster, da paßt einfach alles. Selbst der Schreibtisch.«
Er stand daneben und starrte auf einige Zeichnungen, die Schüler angefertigt hatten.
»Ich habe mir Mühe gegeben.«
»Das sieht man, Anne. Sie sind ein Mensch, der sehr nach seinen Gefühlen lebt, nicht wahr?«
»Das stimmt. Zudem brauche ich eine gewisse Wärme, die mich einlullt. Ich mag natürliche Materialien. Dazu zähle ich vor allen Dingen Holz. Ich hasse den Kunststoff.«
»Davon lebe ich.«
»Entschuldigung, ich wußte nicht…«
Pierre winkte ab. »Macht nichts. Aber in der Flugzeugindustrie wird auch Kunststoff eingesetzt.«
»Ich glaube Ihnen.« Anne lächelte. »Wissen Sie eigentlich, daß ich noch nie in meinem Leben geflogen bin.«
Rodins Augen weiteten sich. »Sagen Sie nur. Gibt es das denn auch noch in unserer Zeit?«
»Und ob. Mir machen die Flugzeuge einfach Angst. Zu viele stürzen ab, aber das ist ein Thema, bei dem man sich, wenn man zwei unterschiedliche Meinungen hat, wohl nicht näherkommt.«
»Stimmt genau.«
»Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muß mich um den Kaffee kümmern.« Anne verschwand hinter der schmalen Tür, die in die kleine Küche führte.
Rodin wartete und ging mit kleinen Schritten durch den Raum, an dessen Wänden die Bilder hingen, die Anne Geron gemalt hatte. Pierre war Techniker, er verstand nicht viel von Psychologie, aber die Motive, die er sehr genau betrachtete, kamen ihm durchweg düster, melancholisch, ja, sogar bedrohlich vor. Es sah so aus, als hätte sich Anne Geron ihre Ängste von der Seele gemalt.
Sehr dunkle Farben bedeckten die Leinwände. Violett herrschte vor, vermischt mit der Farbe Schwarz und nur wenige Räume waren mit hellen Farben ausgefüllt.
Sie malte mal konkret, dann wieder abstrakt. Konkret, wenn es um Landschaften ging, auch sie waren meist eingetaucht in die großen Schatten der Dämmerung.
Nur über dem breiten Bett mit dem hohen Messinggestell hing ein Bild, das heller war, denn es zeigte einen
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