0618 - Der Mondschein-Mörder
Jeden Abend genoß sie dieses Gefühl, wie eine Venus in die Fluten zu steigen und sich der angenehmen Wärme des Wassers hinzugeben.
Auch jetzt rutschte sie tiefer, hielt die Augen halb geschlossen und genoß selbst den Duft, der vom Schaumberg in die Höhe stieg und ihre Nase kitzelte.
Nur ihr Kopf schaute aus dem Schaum hervor. Zwei Minuten gönnte sie sich die Ruhe, dann griff sie zum Handtuch, trocknete ihre Hände ab und goß Champagner in das Glas.
Sie schaute den Perlen zu, wie sie in die Höhe stiegen und an der Oberfläche zerplatzten.
Für sie war der erste Schluck immer der beste, und den genehmigte sie sich jetzt. Prickelnd rannen die edlen Tropfen durch ihre Kehle. Über ihre Lippen glitt ein Lächeln, denn sie hatte die Hektik der letzten Stunden in diesen Augenblicken völlig vergessen.
Bis zur Hälfte leerte sie das Glas, schloß die Augen und stellte es zur Seite. Dabei berührte ihre Hand das Buch, und wieder einmal zuckte die Frau zusammen.
Dieses verdammte Buch! Es stieß sie ab und zog sie gleichzeitig wie magisch an.
Ihre Hände waren schweißfeucht. Plötzlich war dieses Gefühl wieder zurückgekehrt. Sie hatte das Gefühl, sich die Fingerkuppen verbrannt zu haben.
Von dem Buch ging Unheil aus.
Leider hatte sich Madame Imelda nicht zuvor darüber informieren können, wie hoch die verkaufte Auflage des Buches gewesen war.
Wenn jedoch ihre Befürchtungen sich bewahrheiteten, dann mußten möglicherweise auch die zahlreichen Käufer in den Bann geraten sein.
Oder hatte nur sie etwas gespürt?
Daß ihr Herz rascher klopfte als gewöhnlich, lag nicht allein am Wasser, sondern auch an dem Wissen, daß sie bald das Buch lesen würde. Sie mußte es ja nicht, noch war es einzig und allein eine freiwillige Sache, aber sie wollte nicht mehr kneifen. Einmal hatte sie sich dazu entschlossen, sie würde keinen Rückzieher machen.
Sehr vorsichtig, als wäre es ein kostbares Geschenk, nahm sie das Buch in die Hand. Die Schrift zitterte vor ihren Augen. Sie zwinkerte, holte tief Luft und leerte das Glas dann mit einem Zug.
Madame Imelda kippte nicht nach. Sie wollte warten und in ihrem Rhythmus bleiben.
Vom Rand der ovalen Badewanne kippte sie das Brett heran, auf das sie das Buch legen konnte. Die Stütze konnte bewegt und dabei auch in eine Schräglage gedrückt werden, damit es ihr leichter fiel, ein Buch zu lesen.
Schon beim ersten Satz zuckte sie zusammen, denn die Worte gingen unter die Haut.
Der Killer wird jeden erwischen!
Madame Imelda wiederholte die Worte einige Male, dachte über sie nach und auch über das Gefühl und die Ängste, die sie überfallen hatten.
Dabei spürte sie den kalten Hauch auf ihrem Rücken, als würden eisige Fingerspitzen die Wirbel berühren.
Es waren nur geschriebene Worte, mehr nicht. Dennoch fürchtete sich die Frau davor. Auf ihrem Rücken wollte die Kälte nicht mehr verschwinden, sie drehte deshalb das heiße Wasser an und füllte nach.
»Ob er damit recht hat?« flüsterte sie. »Wird er jeden erwischen, auch mich?«
Schaum wallte durch den neuen Wasserdruck in die Höhe und baute vor ihrem Kinn einen kleinen Berg. Sie lauschte dem Knistern der zerplatzenden Bläschen nach, drehte das Wasser wieder ab, strich die Haube über den Haaren glatt und las weiter.
Der erste Satz schon hatte sie in ihren Bann gezogen. Dieser hörte nicht auf. Wort für Wort verschlang sie. Sie schaute auf die gedruckten Zeilen, sie erlebte beim Lesen die Szenen mit. Das war ihr noch niemals zuvor in einer derartigen Intensität widerfahren. Madame Imelda empfand es als schlimm und gleichzeitig als faszinierend. Sie bekam kaum mit, wie sie die Seiten umblätterte, ihre Gedanken beschäftigten sich voll und ganz mit dem Text.
Der Mondschein-Mörder stieß sie ab, doch sie bewunderte ihn auch – ebenso wie den Schriftsteller, der dieses Buch geschrieben hatte.
Er versteckte sich hinter einem Pseudonym, das nur aus zwei Buchstaben bestand.
E und F!
Möglicherweise waren es auch zwei Personen, die an dem Buch geschrieben hatten. Jedenfalls kannten sie sich aus, denn sie schrieben auch über die Heimat des Mondschein-Mörders, einem Land, das nicht namentlich erwähnt, dafür aber sehr genau beschrieben wurde und der Astrologin einfach märchenhaft vorkam. Sie wurde erinnert an die Geschichten aus ihrer Jugend, als sie von geheimnisvollen Reichen und Ländern gelesen hatte, die hinter dem Regenbogen lagen.
Dieses Land allerdings war nicht nur freundlich oder schön
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