0618 - Der Mondschein-Mörder
eigentlich unbekannt war.
Sie kannte ihn aus dem Buch – es war der Mondschein-Mörder!
Dieses Wissen hätte ihr eigentlich Angst einjagen müssen, was ungewöhnlicherweise nicht geschah, denn sie spürte selbst eine gewisse Faszination, die von dem Schatten ausging. Gleichzeitig begann sie analytisch zu denken, denn sie sinnierte darüber nach, wie es möglich gewesen sein konnte, daß eine erfundene Figur plötzlich zur Realität wurde. Auch sie beschäftigte sich in ihrem Beruf mit gewissen übersinnlichen Phänomenen, so weit wie an diesem Abend war es allerdings nie gekommen. Heute hatten Geister Gestalt angenommen.
Der Schatten blieb im flackernden Licht, das länger an als aus war.
Sie konnte ihn als männliches Wesen identifizieren. Seine Gestalt war noch durchscheinend, aber er besaß ein Gesicht, das sich von der grauen Fläche kaum abhob. In ihr schimmerten die roten Augen wie zwei gefährlich leuchtende Warnlampen, und er bewegte sich sehr schnell und hektisch, wobei in seiner rechten Hand plötzlich etwas aufblitzte. Lang, scharf und spiegelnd sah es aus.
Ein Messer?
Madame Imelda saß wie erstarrt in der Wanne. Die Frau konnte nur auf den Schatten schauen, der vor ihr auf- und niedertanzte.
Dann wischte das Blanke auf sie zu.
Es kann auch eine Scherbe sein! dachte sie noch, bevor sie den Schmerz in ihrem Gesicht spürte.
Es war ein böses Reißen. Auf der Stirn entstand eine Wunde. Blut rann aus der Wunde und über ihr rechtes Auge. Die Frau schaffte es, den Schmerz zu ignorieren, der Überlebenswille peitschte in ihr hoch. Sie mußte, wenn sie ihr Leben retten wollte, die Wanne verlassen.
In einer wilden Bewegung schaufelte sie mit beiden Händen dem Schatten Wasser entgegen und stemmte sich eine winzige Zeitspanne später in die Höhe.
Daß sie ein Risiko einging, war ihr bekannt, doch ihr blieb keine andere Wahl.
Der blitzende Gegenstand schlug abermals zu. Diesmal erwischte er ihren Körper.
Das Blut floß in das Wasser, färbte es, aber die Frau war nicht tot, nur verletzt und nicht so schwer, als daß sie die Wanne nicht hätte verlassen können.
Sie rollte sich förmlich über den Rand, kam auf die Knie, rutschte auf den nassen Fliesen aus, schlug hin und bekam mit, wie der Schatten raubvogelgleich von der Decke her abermals auf sie herabstieß.
Wieder blinkte seine Waffe auf, und wieder erwischte sie der beißende Schmerz.
Diesmal am rechten Bein.
Jetzt schrie sie auch. An den Wänden brach sich der Schrei und tobte als Echo durch den Raum.
Auf allen vieren kroch Imelda Miller weiter. Sie hatte die Tür nicht geschlossen, stierte dorthin und sah die Öffnung als schaukelndes Rechteck vor sich.
Wie sie es schaffte, den Schlafraum zu erreichen, konnte sie selbst nicht sagen, dort aber verließen sie ihre Kräfte. Bis zum Bett schleppte sie sich noch, dort brach sie dann zusammen und spürte unter ihrem Körper die Kühle der Kissen, wobei das Blut aus den Wunden sickerte und die beigefarbene Bettwäsche besudelte.
Imelda Miller blieb liegen und atmete wild. Wenn sie Luft holte, tanzte die Decke vor ihren Augen in einem wilden Reigen. Sie befand sich in der normalen Welt, aber sie fühlte sich in eine andere hineinversetzt, wo sie nur von Feinden umgeben war.
Nicht einmal weinen konnte sie. Der Druck und das Gefühl, soeben am Tod vorbeigeglitten zu sein, nahm ihr jegliche Rührung. Sie lebte, das allein zählte.
Und der Mondschein-Mörder?
Natürlich dachte sie an ihn. Er war erschienen, um sie umzubringen, aber war er auch wieder verschwunden?
Sie stellte sich die Frage immer wieder und achtete nicht auf die schmerzenden Wunden.
Manchmal drehte sie den Kopf nach rechts, um zum Bad schauen zu können. Nur auf einem Auge sah sie normal, das linke war durch Blut verklebt.
Madame Imelda war klar, daß sie nicht die ganze Nacht auf dem Bett liegenbleiben konnte. Sie mußte irgendwann aufstehen und etwas für sich tun. Dazu gehörte auch das Verpflastern der Wunden, die glücklicherweise aufgehört hatten zu bluten.
Sie spielte zusätzlich mit dem Gedanken, einen Arzt anzurufen, wollte jedoch abwarten und sich die Verletzungen zunächst einmal anschauen.
Ins Bad war die Normalität zurückgekehrt. Dort flackerte kein Licht mehr, sie sah auch nicht den Schatten über Wände oder Spiegel huschen, einzig und allein die Wasserlachen schimmerten wie große, feuchte Augen auf den Fliesen.
Daß sich Imelda Miller zu den Energiebündeln zählte, gab sie gern zu. Es entsprach auch
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