062 - Schiff der verlorenen Seelen
Coco.
„Nein", antwortete Dorian. „Jetzt wird es erst interessant. Der Kapitän schrieb später noch einiges dazu - als Toter."
„Wie war das?" fragte Coco überrascht.
„Du hast recht gehört", brummte Dorian. „Er wurde von einem Besatzungsmitglied erschlagen. Trotzdem konnte er einige Zeit später wieder schreiben."
„Das mußt du mir näher erklären", bat Coco.
„Sofort", sagte Dorian. „Wo steckt Hekates Ableger?"
„Er hat sich nicht bewegt", sagte Coco. „Lies weiter vor!"
„Es ist schwer zu entziffern", sagte Dorian. „Die Schrift ist zittrig, einige Wörter sind unleserlich."
Ich weiß nicht, welchen Tag wir schreiben, ich weiß nicht einmal das Jahr. Alles ist unfaßbar für mich. Ich sah, wie einer der Matrosen mit einem Enterbeil meine Kajüte betrat. Die Feder fiel mir aus der Hand. Das Gesicht des Matrosen verzerrte sich. Ich wollte aufstehen, doch ich war zu schwach dazu. Das Beil spaltete meinen Hinterkopf. Ich starb.
Und jetzt lebe ich wieder. Es ist eine seltsame Art von Leben. Ich kann denken und mich bewegen, doch ich bin ein anderer geworden. Ich habe keinen Hunger, keinen Durst und verspüre keine Schmerzen; nur ein seltsames Locken ist in meinem Körper, ein Locken, das sich wie das Singen einer jungen Frau anhört. Ich muß dem Locken folgen.
Unheimliche Dinge habe ich zu berichten. Sollte jemals jemand meine Aufzeichnungen zu Gesicht bekommen, dann soll er die „Torquemada" rasch verlassen, denn es ist ein verfluchtes, ein unheimliches Schiff, auf dem grauenhafte Dinge geschehen.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch schreiben kann. Ich spüre, wie ich schwächer werde, wie sich eine Lähmung meines Körpers bemächtigt.
Das Locken trieb mich aus meiner Kajüte. Ich blieb überrascht stehen. Das Schiff schien durch eine Nebelwand zu fahren. Nur das Ächzen des Schiffsleibes war zu hören. Überall sah ich unheimliche Gestalten, die alle zum Großmast gingen. Ich schloß mich ihnen an und starrte auf meine Hände. Es waren Knochenhände. Ich griff in mein Gesicht. Mein Kopf war zu einem Totenschädel geworden. Das Locken wurde stärker. Endlich hatte ich den Großmast erreicht. Mehr als zwanzig Skelette umringten mich. Ein leises Raunen war zu hören, das immer lauter wurde. Ich wandte den Schädel um.
Eine Gestalt schien auf uns zuzuschweben. Es war das Rattengeschöpf, des jetzt mannsgroß war. Es hob die dürren Arme, und ich wußte, daß das Raunen von der Gestalt ausgegangen war.
„Ihr werdet mit gehorchen!" befahl die grausige Gestalt.
Ihre Stimme war die eines jungen Mädchens, sanft und einschmeichelnd; sie paßte so gar nicht zu dem grauenvollen Körper.
„Ich bin hungrig", flüsterte das Wesen. „Ich benötige Nahrung. Und ihr werdet sie mir beschaffen. Ihr seid tot. Das wird euch allen schon bewußt geworden sein. Doch ich habe die Kraft und die Fähigkeit, euch immer wieder zu erwecken. Dazu benötige ich aber Nahrung. Das Schiff ist für normale Menschen unsichtbar, doch dank meiner Kräfte kann ich es für einige Zeit sichtbar machen."
Das Wesen veränderte plötzlich die Gestalt. Die Luft schien zu flimmern. Für einen Augenblick wurde das grauenhafte Ungeheuer durchscheinend, dann nahm es eine neue Gestalt an.
Ein junges Mädchen stand vor uns. Ich hatte sie schon früher gesehen. Es war der Geist, den Arrabell zu Hilfe gerufen hatte. Aber ich hatte geglaubt, daß der Geist von Bord gegangen war. Das Mädchen war wunderschön, ihr Körper makellos, das Haar voll und leuchtend.
„Ein Schiff nähert sich uns", sagte das seltsame Geschöpf. „Ich will, daß ihr die ganze Besatzung gefangennehmt und sie in den Mannschaftsräumen einsperrt. Habt ihr mich verstanden?"
Die Skelette nickten.
Das Mädchen hob die Arme, und der Nebel verschwand. Es war Nacht. Der Mond stand hoch am Himmel. Eine halbe Seemeile von uns entfernt schwamm eine kleine Karavelle.
Das seltsame Wesen ging auf mich zu und berührte mich. Ich erwachte aus meiner Erstarrung und schrie der Besatzung einige Befehle zu. Das Schiff änderte den Kurs. Es steuerte genau auf die Karavelle zu.
Eine halbe Stunde später hatten wir sie erreicht. Schüsse zerrissen die Nacht, die uns aber nichts anhaben konnten. Wir legten an der Karavelle an und führten die Befehle des Mädchens aus. Einige Männer der gekaperten Karavelle wehrten sich. Wir machten sie nieder. Die anderen nahmen wir gefangen und sperrten sie in die Mannschaftsräume ein. Dann legten wir ab, und der Nebel hüllte die
Weitere Kostenlose Bücher