0621 - Die Vergessene von Avalon
Haus, ohne direkt allein zu sein, denn sie wußte ihre Eltern stets um sich.
Die beiden waren wie Geister, die sie sogar manchmal kühl berührten. In gewissen Nächten, die besonders stimmungsvoll waren, hörte sie stets ein fernes Singen und glaubte auch, die Stimmen der Eltern verstehen zu können.
Woher war sie gekommen? Weshalb hatte sie ihr Augenlicht verloren? Die Eltern hatten auf diesbezügliche Fragen nur ausweichende Antworten gegeben, aber es war ihr gelungen, ein Gespräch zwischen ihnen zu belauschen. Dort fiel ein geheimnisvolles Wort.
Avalon
Zuerst hatte Melu damit nichts anfangen können. Sie hatte sich zudem nicht getraut, näher nachzufragen, aber sie dachte schon darüber nach, gab nicht auf und erfuhr, daß es sich um eine Insel handelte, die den Namen Avalon trug.
Eine sehr geheimnisvolle Insel, auf der König Artus versucht haben sollte, die Widergeburt zu erlangen. Er war nach Avalon gegangen, um dort auf seine Art und Weise zu sterben.
Gab es Avalon überhaupt? Oder war diese Insel nur ein Produkt alter keltischer Sagen?
Melu wußte es nicht. Es konnte auch niemand sagen, wo die Insel genau lag.
Im Westen, hieß es, im Westen…
Das Meer, die Wellen, die ewige Brandung, die immerwährende Sonne, der Frühling – war das Avalon? Die Insel, nach der man sich noch heute ebenso sehnte wie die Ritter der Tafelrunde damals, die ebenfalls von Avalon gewußt hatten?
Für Melu war alles auf einmal gekommen und hatte seinen vorläufigen Abschluß mit dem Tod ihrer Eltern gefunden.
Trotzdem hatte sie nie aufgehört zu grübeln. Besonders dann, als die Zeit der intensiven Trauer vorbei war. Auch das Gefühl, die Eltern immer in der Nähe zu haben, war geblieben. Als Beschützer schwebten sie über ihr wie feinstoffliche Geister.
Sie vergaß Avalon, denn niemand konnte ihr mehr über die geheimnisvolle Insel sagen. Gleichzeitig wußte sie, daß die Zeit für sie arbeitete und auch die Blindheit nicht von Dauer war. Sie mußte nur einen Weg finden, um sie vertreiben zu können.
Und sie hielt den roten Faden bereits in der Hand!
Wer ihr den Tip gegeben hatte, wußte sie nicht. Sie hatte ihn während eines sehr intensiven Traumes erfahren, denn jemand war es gelungen, ihr eine Botschaft zu schicken.
Einen Namen.
John Sinclair!
Noch nie hatte sie ihn gehört. Zunächst war er Melu aus dem Gedächtnis geglitten, aber der Traum war in den folgenden Nächten zurückgekehrt und hatte stets mit der Nennung des Namens sein Ende gefunden.
John Sinclair!
Immer wieder hatte Melu den Namen geflüstert, um sich alles genau einzuprägen. Es war eine Zeit vergangen, bis sie sich traute, mit anderen Menschen über den Namen zu sprechen, und sie hatte nichts erfahren. Niemand kannte eine Person mit diesem Namen.
Ein Bekannter hatte sogar in einem Telefonbuch nachgeschaut, mehrere Sinclairs dort entdeckt, ihr aber nicht sagen können, ob der gesuchte Mann dabei war.
Einige Menschen dieses Namens hatte sie angerufen und nur dumme Reaktionen erlebt.
Melu war verzweifelt, bis ihr schließlich eine Idee gekommen war, die sie nach einiger Überlegung auch in die Tat umgesetzt hatte.
Jetzt wartete sie auf den Erfolg.
Das dunkelhaarige Mädchen ließ sich sehr von seinen Gefühlen treiben. Es glaubte einfach daran, daß es mit dieser Methode Erfolg haben mußte.
Sie wollte auch nicht zu ungeduldig sein, sie ließ sich nur Zeit.
Wenn das Schicksal tatsächlich auf ihrer Seite stand, würde sie schon den Kontakt finden.
Jeden Morgen überfielen Melu die gleichen Gedanken. Sie tauchten dann hinein in die Frische des Tages, in das Rauschen der Wellen, und sie hatte das Gefühl, einen geheimnisvollen Gruß von der Insel Avalon herübergeschickt zu bekommen.
Der Orkan der Nacht hatte das Land befreit. Es türmten sich keine dunklen Wolkenberge mehr am Himmel. Wie blankgefegt wirkte er.
Ein weites, unendlich erscheinendes Blau, von dem Melu leider nichts sah. Aber sie wußte, wie es aussah, ihr Vorstellungsvermögen war ausgezeichnet, hinzu kam die Erinnerung an die Zeiten, als sie noch ihr Augenlicht besessen hatte.
So roch und genoß sie die einsame Küstenregion, durch die Sturmwind das Mädchen trug.
Der Hengst war in den besten Jahren. Ein wunderbares Tier mit einem herrlichen Fell, dem die Pflege anzusehen war. Wie Seide schimmerte es.
Braune, rote und beige Farben mischten sich bei ihm und liefen ineinander über. Da war nichts verkratzt oder verfilzt, dieses Tier wirkte völlig gesund, und es war
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