0621 - Die Vergessene von Avalon
Hölle überall sein kann. Hinter Mauern, in der Natur, bei einer Frau. Die Hölle verteilt sich gut, damit sie immer präsent ist.«
»Sorry, Mister, aber ich begreife Sie nicht.«
Der Mann atmete heftig. »Das will ich dir gleich erklären. Weißt du eigentlich, daß ich ein Glückspilz bin? Ein richtiger Glückpilz, Mädchen? Ich komme zwar aus der Hölle, aber ich habe es überlebt. Ich konnte dem Teufel ein Schnippchen schlagen.«
»Wie – dem Teufel?«
»Ja, verdammt, dem Teufel. Aber nicht dem, der die Hörner aus der Stirn hat oder so. Nein, dem Teufel, der sich Wasser, Sturm oder Meer nennt. Verstehst du?«
»Ah ja. Sie sind auf dem Meer gewesen.«
»Genau, Süße. In einer verdammten Nußschale. Irgendwann kam eine Welle, groß wie ein Berg.« Er zeichnete sie mit den Händen nach, aber Melu reagierte nicht. »Also, da kam eine Welle, und die zertrümmerte mein Boot. Das kannst du dir nicht vorstellen, das war der nackte Wahnsinn. Sie machte uns fertig, aber ich überlebte, denn mir gelang es, mich an einer Planke festzuhalten.« Er kicherte plötzlich. »Klingt wie ein Roman, wie? Ist aber keiner. Die Planke hat mich gerettet und das Schicksal, es trieb mich an diesen Teil der Küste. Vielleicht hatten die Wellen was gutzumachen, denn sie spülten mich an Land. Ist das nicht schön, Süße?«
»Ja, da können Sie froh sein.«
»Okay, Mädchen. Ich lag also hier, ich war groggy, down, erschöpft, ich war fast soweit, daß ich nicht mehr wollte. Dann hörte ich etwas. Ein dumpfes Klopfen im Sand. Ich hob den Kopf, ich bewegte mich, und plötzlich sah ich das Pferd.«
»Sturmwind hat sich vor Ihnen erschreckt.«
»Ich auch, zum Henker!«
»Tut mir leid, Mister.«
»Scheiße, Süße. Weshalb bist du mir nicht ausgewichen? Du hättest vorbeireiten können.«
Melu richtete sich auf und stützte sich mit gespreizten Händen am Boden ab. »Das war nicht möglich, Mister.«
»Weshalb denn nicht?«
»Schauen Sie mir ins Gesicht.« Sie drehte den Kopf so, wie sie ihn glaubte, drehen zu müssen.
Der Mann vor ihr ging in die Knie. Sie hörte es aus seinen Bewegungen heraus.
»Ach nein, du bist ja blind!« stieß er hervor. »Verdammt, du kannst nichts sehen, wie?« Er wedelte mit der Hand vor ihren Augen, ohne daß Melu eine Reaktion zeigte.
»Ja, ich bin blind.«
»Hm.« Der Fremde überlegte. »Wie heißt du denn?«
»Melusine de Lacre.«
»Wie?« Dann lachte er. »Was ist das denn für ein komischer Name, Süße.«
»Man sagt Melu zu mir.«
»Ist auch besser.« Er nickte, und sein Gesicht hatte dabei einen angespannten Ausdruck angenommen. »Hör mal, Melu, willst du meinen Namen auch wissen?«
»Gern.«
»Ich bin Brian Fuller.«
»Hi, Brian.«
Fuller rieb seine Hände und grinste breit. Diese Reaktion gefiel ihm, bewies sie ihm doch, daß Melu seinen Namen noch nie gehört hatte. Er war für sie ein unbeschriebenes Blatt. Der Zufall hatte ihm eine Chance gegeben, die er beim Schopf fassen mußte. »Hör mal, Melu«, sagte er und kniete sich vor sie. »Reitest du immer hierher?«
»Jeden Tag.«
»Dann wohnst du auch in der Nähe?«
»Nicht weit von hier. Zwei Meilen ungefähr.«
»Mit deinen Eltern oder…?«
»Nein, ich lebe allein.«
Das Gesicht des Mannes vereiste. Er sah aus, als hätte ihm jemand etwas Unglaubliches berichtet. Das konnte doch nicht wahr sein. Ein junges Mädchen ganz allein in einem einsam stehenden Strandhaus.
So etwas gab es nur im Film.
»Was haben Sie, Brian?«
»Hä – eigentlich gar nichts, nein, überhaupt nichts. Ich mache mir nur Sorgen.«
»Weswegen?«
»Deinetwegen.«
»Das brauchen Sie nicht. Mir ist ja nichts passiert. Der Rücken tut mir etwas weh, mehr ist nicht geschehen. Wirklich, Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen.«
»Na ja, ich habe Ihren Gaul erschreckt.«
»Er wird zurückkommen.«
»Wann?«
Melu hob die Schultern und strich ihr Haar zurück, das der Wind nach vorn geweht hatte. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, aber er läßt mich nicht im Stich.«
Fuller überlegte. »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Ich habe zwar nur zwei Beine, doch ich kann denken.«
»Was denken Sie denn?«
Er nieste. »Daß ich mir in meinen nassen Klamotten noch den Tod holen werde, wenn ich hier noch länger hocke. Wie wäre es denn, wenn wir gemeinsam den Weg zurückgehen und ich mich bei Ihnen etwas aufwärme. Ich muß auch noch ein Telefongespräch führen.«
Melu überlegte. »Es ist meine Pflicht, Ihnen zu helfen. Sie brauchen
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