0621 - Die Vergessene von Avalon
selbst über die Bordwand, bevor es die ablaufenden Wellen mit sich reißen konnten.
Sekunden später geriet er in die Brandung, die an dieser Stelle nicht so hoch tobte, aber mit dem Boot, das über die Hälfte noch von der Plane bedeckt war, nur spielte.
Sie schleuderten es vor, sie hoben es an, sie schlugen es zur Seite, und Brian Fuller kam sich vor wie auf einer Schaukel. Er klammerte sich fest. Wasser gischtete über ihn hinweg, und er drehte sich einmal kurz um, weil er zurück zum Ufer schauen wollte.
Das hatten die Häscher mittlerweile erreicht. Fuller sah das Tanzen der hellen Lichtkegel, er bekam allerdings auch mit, wie sich einige Strahlen auf eine bestimmte Stelle konzentrierten, und zwar dort, wo Spike liegen mußte.
Fuller wußte nicht, ob der Mann tot war. Er konnte auch schwer verletzt sein. Für ihn spielte das keine Rolle mehr. Er mußte so schnell wie möglich weg, denn die Hundesöhne würden natürlich die Küstenwache alarmieren.
Die Wasserbullen besaßen wesentlich schnellere Boote. Der Nebel war nicht gekommen. In seiner Deckung hätte er ihnen ein Schnippchen schlagen können.
Jetzt mußte er versuchen, sich durch die tobende Wasserhölle zu wühlen, bis er weit genug entfernt war, um an Land gehen zu können. So sah der Plan aus.
Fuller hockte geduckt im Boot. Noch immer rechnete er mit ihren Kugeln. Sie mußten ja wissen, wohin er geflohen war. Die Spuren im Sand redeten eine deutliche Sprache.
Der Wind kam zumeist von vorn. Er brachte die Wassermassen mit, die in sein Gesicht schlugen wie nasse Lappen. Er hatte den Außenborder angeworfen, hielt das kleine Ruder, doch bei jedem Fall in ein Wellental stach das Heck aus dem Wasser, und die Schraube drehte ins Leere.
Entfernt glaubte er, Stimmen zu hören, kümmerte sich nicht darum. Fuller mußte nach vorn schauen, denn aus dem Wasser wuchs ein Hindernis in die Höhe.
Einer dieser verfluchten schwarzen Felsen, deren Kanten Schiffsrümpfe aufschnitten wie ein Brot die Butter.
Brian Fuller schrie, als ihn eine Welle packte und auf den Felsen zuschleuderte. Er rechnete damit, daran zu zerschellen, doch das Glück stand diesmal auf seiner Seite.
Haarscharf verfehlte ihn das Gestein. Links davon rutschte er förmlich vorbei, bevor ihn ein Strudel packte und wie von einer Riesenhand gedrückt auf das offene Wasser zuschob.
Hier tosten die Wellen noch schlimmer und höher. Sie machten das Boot zu einem Spielball ihrer Kraft.
Fuller verlor die Übersicht. Manchmal wußte er nicht, wo er sich befand. Er hatte seinen Gleichgewichtssinn verloren. Das Wasser war wie ein wütendes Tier, es machte mit ihm, was es wollte. Er hörte sich oft sogar selbst schreien. Seine Augen glichen angsterfüllten Kugeln, wenn ihn die immense Kraft wieder auf einen Wellenkamm hochschob, als befände er sich in einer Achterbahn.
Er kam durch, er kenterte nicht. Das Boot raste fast kopfüber zurück in das Wellental, und der Orkan hörte nicht auf. Er umtoste den Einsamen wie mit tausend Schreien und heulenden Geisterstimmen. Der Wind war zu einem Tier geworden. Er wollte den Menschen zeigen, wozu er fähig war, denn er schaufelte nicht nur das Wasser zu mächtigen Wogen hoch, er richtete auch in den Küstenregionen verheerende Verwüstungen an.
Brian Fuller hatte das Gefühl für Zeit längst verloren, ebenso wie die Orientierung.
Er hatte sich in sein Schicksal ergeben, hockte halb unter der Plane und lernte selbst als Mörder noch das Beten. Es war schlimm für ihn. Er fror, er zitterte, doch die tosende Wasserhölle kannte kein Erbarmen mit ihm und seinem Boot.
Irgendwann war es soweit.
Fuller sah die hohe Wasserwand an der Seite. Ein aufgetürmtes, gewaltiges Stück Glas, unheimlich breit, dem er niemals würde entkommen können.
Dann fiel die Wand über ihn. Schwer wie Beton machte sie alles nieder. In einem wahren Spaß zertrümmerte sie das hölzerne Boot in mehrere Teile.
Sie spülte den Mann einfach weg, der verzweifelt um sich schlug und noch merkte, wie seine Hände durch Zufall eine breite Planke oder ein Stück Holz umklammerten.
Danach verlor er das Bewußtsein…
***
Melusine de Lacre, von Freunden kurz Melu genannt, verzichtete auch im Winter nicht auf ihren täglichen Ausritt am Strand. Es war einer der Tage, die man hätte anhalten sollen. Ein frischer Wind, die herrlich klare Luft, die beim Einatmen würzig schmeckte, das Rauschen der Wellen, die schrillen Schreie der Wasservögel, die sich ebenfalls über den wunderbaren Tag
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