0622 - Das Monstrum von der Nebelinsel
Man hatte mir den Dunklen Gral gestohlen. Nicht nur das, er war zudem in den Besitz einer geheimnisvollen Person übergegangen, die mein Vertrauen mißbraucht hatte.
Ich selbst hatte Melusine de Lacre in meine Wohnung und damit an den Gral herangeführt. Jetzt war mir auch klargeworden, weshalb sie dermaßen intensiv nach mir gefahndet hatte. Ihr Interesse hatte nicht meiner Person, dafür dem Gral gegolten.
Ich richtete mich auf.
Nun klappte es. Zwar war ich nicht völlig fit, der Druck im Kopf blieb, doch ich fühlte mich wieder als Mensch und ging zum Fenster, um es zu öffnen.
Die frische Nachtluft strömte in den Raum und vermischte sich mit der brütenden Wärme. Für die Jahreszeit war es zu warm. Wir hatten weder Frost noch Schnee, die Temperaturen erreichten an manchen Tagen sogar zweistellige Zahlen. Dieser Winter war bisher die Fortsetzung des letzten heißen Sommers gewesen.
Der Nachthimmel kam mir vor wie eine gewaltige Fläche, die auf mich zukam und mich schlucken wollte. Wolken segelten durch die Finsternis, hin und wieder blinkten die Sterne, als wollten sie mir einen letzten Gruß zusenden.
Ich fühlte mich matt und zerschlagen, dachte natürlich an Melusine de Lacre und ihre Tat. Weshalb hatte sie den Gral genommen?
Gab er ihr tatsächlich die Chance, die Blindheit zu besiegen, wenn es ihr durch seine Hilfe gelang, nach Avalon zu kommen?
Ich wußte es nicht, ging allerdings davon aus, weil sie sich mit einer schon übernatürlichen Verbissenheit an das Auffinden des Dunklen Grals gemacht hatte.
Es war wahrscheinlich mein Fehler gewesen, daß ich mich nicht so intensiv um den Dunklen Gral gekümmert hatte. Ich hatte mehr nachforschen und in die tiefe Vergangenheit zurückgehen sollen. Im Hohen Mittelalter hatte er eine Rolle gespielt. Er war immer das Tor oder der Weg in die anderen Zeiten und zu geheimnisvollen Plätzen gewesen, die oft zwischen den Dimensionen schwammen.
Okay, ich war letztendlich sein Besitzer geworden, doch das eigentliche Wissen um ihn fehlte mir.
Wer konnte mir da helfen? Wer wußte etwas über die Familie de Lacre, über den Stammbaum und noch mehr?
Ich nicht, aber meine Hoffnungen lagen bei Suko, der ausgezogen war, um entsprechende Nachforschungen anzustellen. Sollte es einen Stammbaum der Familie geben, so wurde ihn Suko in dem einen oder anderen Archiv finden können.
Ich schloß das Fenster. Mit beiden Händen strich ich durch mein Gesicht. Ich kam mir vor wie jemand, der alles auf eine Karte gesetzt und verloren hatte.
Schade, mein Vertrauen in Melusine de Lacre war sehr groß gewesen. Sie hatte es mißbraucht. Stellte sich natürlich die Frage, ob es freiwillig oder unfreiwillig geschehen war. Ich wollte ihr eine Chance geben und schloß auch das letzte nicht aus. Durch ihre Blindheit war sie stark gehindert, es lag also auf der Hand, daß ein Mensch wie sie alles versuchen wurde, um den Zustand abzulegen. Und wenn es nur über den Gral ging, dann hatte sie ihn eben haben müssen.
Ich ging ins Bad. Ein Mann ohne Energie, körperlich zerschlagen.
Meine Füße schlurften über den Boden. Es bereitete mir Mühe, die Beine hochzuheben. Am liebsten hätte ich mich ms Bett fallen lassen, um tief und fest zu schlafen.
Das Licht schmerzte meinen Augen. Vielleicht ging es mir besser, wenn ich Wasser in mein Gesicht laufen ließ oder eine Dusche nahm. Dann wollte ich trotz der späten Stunde mit Suko reden, um von ihm zu erfahren, ob er Erfolg gehabt hatte.
Alles Dinge, über die ich nachdachte, die ich mir vornahm, aber zurückstellen mußte, denn ich hatte das Bad betreten, Licht gemacht und schaute automatisch nach links, wo der rechteckige Spiegel an der Fliesenwand hing Die Fläche gab mein Bild wider!
Mir stockte der Atem. War ich das? War ich das nicht? Das mußte ich einfach sein, aber durch meine Brust fuhr ein Stich, als wäre er mit einer glühenden Messerklinge geführt worden.
Ja, die Person war ich, aber ich sah nicht mehr so aus wie am heutigen Morgen.
Ich war um mindestens zwanzig Jahre gealtert!
***
Das kulturhistorische Archiv der Londoner Uni hatte eigentlich schon geschlossen gehabt, aber Suko war am Ball geblieben und hatte herausgefunden, daß sich einer der Professoren noch im Hause befand.
»Und mit dem Herrn will ich reden!« hatte Suko zu dem Pförtner in seiner Loge gesagt.
Nach einigem Hin und Her hatte er es tatsächlich geschafft und konnte sich anschließend des Eindrucks nicht erwehren, daß der Professor Gern wegen der
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