0623 - Ein Tropfen Ewigkeit
schleifend.
Melu hatte den Eindruck, als würden sie zahlreiche Melodien umgeben. Die Musik war ein berauschendes Fest für ihre Ohren. Kaum jemand war in der Lage, dies alles so zu genießen wie sie. Das mußte man erleben, nach den Jahren der Tragik endlich das Gefühl für die Schönheiten der Natur zu bekommen, und dies durfte ihr niemand wegnehmen.
Schweben, schwingen, laufen…
Diese drei Zustände gingen in einen über, und es war für sie einfach wunderbar.
Der erste See erschien ihr zum Greifen nahe. Hier war die Luft ungemein klar. Erst weiter hinten, wo die Konturen der Berge von einem grauen Kranz umworben wurden, hatte sich der Nebel festgesetzt.
Zum Ufer hin fiel das Gelände etwas flacher ab. Es gab auch keine Trennung, sie konnte von der blühenden Wiese her direkt in das Wasser hineinlaufen, was ihr beinahe auch passiert wäre, denn es fiel ihr schwer, den angenehmen Lauf zu stoppen.
Erst im letzten Augenblick schaffte sie es, abzubremsen. Daß sie dabei ausrutschte, machte ihr nichts, denn sie landete mit einem glücklichen Ruf auf der weichen Grasunterlage.
Nach dem Lauf hätte sie sich eigentlich erschöpft fühlen müssen, was nicht der Fall war.
Sie freute sich ihres Lebens, sie war einfach glücklich und spürte die Energie, die sie wie ein frischer Strom erfaßt hatte und ihr Blut vibrieren ließ.
Der Wind fächerte ihr entgegen. Er strich auch über den See und trieb das Wasser zu kleinen Wellen, die leise plätschernd gegen die Ufer liefen.
Weg mit der dicken Winterkleidung. Sie wollte frei sein und dies auch körperlich zeigen.
Hastig entledigte sie sich ihrer Kleidung. Sie schleuderte die Sachen einfach weg wie eine alte Haut. So kam sie sich auch vor. Hineinschlüpfen in die neue Haut, in das zweite Leben.
Ihre Schuhe hatte sie besonders weit fortgeschleudert, als wollte sie diese überhaupt nicht mehr haben. Auf nackten Füßen lief sie einige Male hin und her, weil sie das Gefühl einfach genießen wollte, wenn sich das saftige Gras um ihre Füße schloß wie Pantoffeln.
Am Ufer blieb sie stehen. Jetzt strich der Wind gegen ihren nackten, mädchenhaften Körper. Ein Schauder durchflog sie. Melu spürte, wie sich die kleinen Knospen ihrer Brüste aufrichteten. Die Augen leuchteten und nahmen fast die Farbe des Wassers an, ein grünblau, sehr klar und fast schon strahlend.
Daß sie sich auf Avalon befand, daß sie hier die Geister ihrer verstorbenen Eltern treffen wollte, daran dachte sie nicht mehr. Sie hatte die Insel bereits als ihr Zuhause angenommen.
Langsam ging sie vor, blieb dicht am Wasser stehen, streckte das rechte Bein aus und tauchte den Zeh in die Flüssigkeit. So prüfte Melu die Temperatur und empfand sie als angenehm. Das Wasser kam ihr ebenso warm wie die Luft vor.
Für Melusine de Lacre gab es kein Zögern mehr. Sie mußte einfach hinein in die glasklaren Fluten.
Es war wunderbar, in das Wasser zu steigen, das sehr schnell ihre Oberschenkel umspielte, dann hoch bis zu den Hüften wanderte, schließlich die Brust erreichte und Melu sich nach vorn drückte, um auf den See hinauszuschwimmen.
Das Wasser umschmeichelte sie wie fürsorgliche Hände. Im nachhinein war sie ihrem Vater dankbar, der sie das Schwimmen gelehrt hatte. Und so glitt sie weiter, mit Bewegungen, die sie zum erstenmal nachvollziehen konnte.
Melusine sah, wie sie ihre eigenen Arme ausbreitete, um ruhig zu schwimmen.
Dieser Zustand hielt nicht lange an. Den Untergrund spürte, sie nicht, sie konnte Wasser treten, was sie auch tat, aber sie schlug dabei mit beiden Händen auf die Oberfläche, so daß Fontänen in die Höhe stiegen wie Wasserstrahlen aus dem Brunnen, um als glitzernde Tropfenketten wieder zusammenzufallen.
Es war so herrlich, so unbeschreiblich, und das Glück kam über sie wie ein Rausch.
Melu war derart mit sich selbst beschäftigt, daß sie die Umgebung vergaß. So bekam sie auch nicht mit, was sich in der Tiefe des Sees tat, denn dort wurde der Grund aufgewühlt, als wollte etwas Unheimliches und Düsteres allmählich hervorkriechen.
Die junge Frau lachte. Sie legte sich auf den Rücken, bewegte Arme und Beine, spritzte und schwamm im klaren Wasser, schloß öfter die Augen, die sie erst wieder öffnete, wenn sie einen Blick in den blauen Himmel werfen konnte.
Er stand über ihr.
Nichts bewegte sich dort. Keine Wolke malte sich ab. Kein Vogel zog seine Bahn, er war einfach da und stand wie gemalt.
In der Tiefe aber brodelte es. Der krasse Gegensatz zur Klarheit
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