0624 - Der Schädel des Riesen
bekam etwas Kugelförmiges, die Schnauze stand nicht mehr so spitz vor. Das Fell war ebenfalls dicker geworden, mächtiger die Beine, schon wie kleine Säulen.
Und der Kopf des Riesen stand unbeweglich. Noch hielt er die Augen geschlossen, aber Blut strömte unter den Schrauben hervor.
Die Ratte war satt.
Etwas schwerfällig setzte sie sich in Bewegung. Schaukelnd näherte sich das Biest dem Rand der Plattform.
Von unten her sprang eine normal große Ratte hoch. Pech für sie, daß sie ihren Körper genau zwischen die aufgerissenen Schnauzenhälften des mutierten Tieres wuchtete.
Die Riesenratte schnappte zu.
Das Knacken ertönte, als Knochen brachen und Knorpel zerquetscht wurden.
Ein Todesschrei hallte jammernd über das Podest, und die Riesenratte spie die Reste ihres Artgenossen kurzerhand aus. Sie landeten zwischen den anderen Tieren.
Dann sprang sie, landete weich auf dem Boden. Ein Tier, das mindestens auf das Vierfache seiner ursprünglichen Körpergröße gewachsen war, weil es vom Blut des Riesen geleckt hatte.
Die Ratte lief weg. Es störte sie nicht mehr, wenn die anderen Tiere sich um das Blut kümmerten. Ihr Weg war akustisch zu verfolgen.
Sie durchbrach Unterholz und Buschwerk; das Maul stand offen, die kleinen Augen schimmerten blutunterlaufen.
Über dem Waldstück breitete sich ein grauer Himmel aus, über den sich die Wolken in Schichten schoben. Der Tag war fast so düster wie ein Abend gewesen.
Das störte die Mutation nicht. Sie wühlte sich weiter vor, spürte die immense Kraft in sich und wußte genau, daß sie dem Riesen etwas schuldig war.
Nicht nur Ratten bevölkerten das Gelände. Am Waldrand lebten auch Füchse. Sie hatten ihre Höhlen in guter Deckung gebaut. Oft genug stritten sie sich mit wilden, entlaufenen Katzen herum. Ratten waren ihnen bisher aus dem Weg gegangen.
Das änderte sich.
Als der Fuchs aus seinem Bau hervorschoß, lief er der Riesenratte genau über den Weg.
Sie griff ihn sofort an.
Der Fuchs war nicht schnell genug. Harte Zähne packten ihn, bissen durch.
Blut strömte aus der Kehle und tränkte den Boden. Die Ratte machte weiter.
Grausam biß sie zu, das bittere Ende war vorauszusehen. Schließlich zuckte der Fuchs nur noch.
Erst dann ließ die Ratte von ihm ab.
Ihre Artgenossen tief im Wald hatten das Podest längst erklettert und labten sich.
Der Schädel des Riesen gab ihnen, was sie brauchten. Auch sie wollten größer und kräftiger werden. Dieses Gebiet sollte neue Herrscher bekommen.
Die Zeit der Ratten war angebrochen…
***
Ich starrte ins Leere!
Wie lange ich da gesessen und den Blick irgendwohin gerichtet hatte, konnte ich nicht sagen. Zeit war für mich keine relative Größe mehr, sie existierte nicht mehr.
VERZWEIFLUNG hielt mich umfangen.
Sie setzte sich aus den Dingen zusammen, die hinter mir lagen.
Himmel, Hölle, Angst, Freude – all dies hatte ich durchlitten, war auf der geheimnisvollen Nebelinsel Avalon gewesen, von der mich Kara letztendlich weggeholt hatte und mußte nun einen Preis zahlen, den man als furchtbar oder wahnsinnig ansehen konnte.
Ich war nicht mehr ich selbst!
Okay, ich hieß noch John Sinclair, aber wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich ein Antlitz, das für mich persönlich die Bezeichnung furchtbare Maske verdient hätte, denn ich war innerhalb von Sekunden um einige Jahrzehnte gealtert.
Schuld daran trug eine junge Frau namens Melusine de Lacre, die auch auf der Nebelinsel gewesen und dort als Geist geblieben war, wo sie sich in die feinstofflichen Gestalten eingereiht hatte.
Das lag zurück, erst kurze Zeit, aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Mich beschäftigte einzig und allein mein persönliches Problem. Wie erreichte ich mein normales Alter zurück?
Ich war nicht einmal in der Lage, nach Antworten zu fahnden, denn das Gefühl der dumpfen Verzweiflung überschattete meine Denkvorgänge. Ich bekam sie in kein Raster, erhielt demnach keine Logik und ließ mich ins Leere treiben.
Schon ein Anfang vom Ende?
Ich hob den Kopf und schaute hinüber zu den flaming stones , die aus der sattgrünen Rasenfläche des Bodens wie Pfeiler in die Höhe wuchsen. Hier waren Kara und ich gelandet, nachdem sie es geschafft hatte, mich von der Nebelinsel wegzuholen.
Der Eiserne Engel hielt sich im Hintergrund. Er sprach mich nicht mehr an, denn er konnte verstehen, wie es in mir aussah. Von Myxin, dem kleinen Magier, sah ich nichts. Er hatte dieses magische Refugium irgendwo in Mittelengland und
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