0624 - Der Schädel des Riesen
Eine besonders dicke Ratte spielte den Anführer. Sie hetzte die lange Hügelflanke des Müllbergs hoch, erreichte nach Sprüngen über Matsch, zusammengepreßte Pappe, alte Konservendosen, kaum verrottete Kunststoffteile und aus dem weichen Boden schauende Metallecken die Spitze des Hügels, die zugleich die höchste Stelle des Müllbergs bildete.
Es stürmte noch immer!
Zwar hatte der Orkan an Kraft verloren, doch er wühlte sich in die Müllhalde hinein und riß jede Menge Abfall mit, bis in Gebiete, die weit von der Müllkippe entfernt lagen.
Die Verantwortlichen hatten die Müllkippe nördlich von London angelegt, nicht daran denkend, wie schnell sie wachsen würde. So war der Platz schon nach wenigen Jahren zu klein geworden. Als Folge davon mußte die Müllkippe geschlossen werden.
Man wollte sie bepflanzen, das würde jedoch dauern. Bis dahin hatten die Ratten noch genügend Zeit, auf dieser Insel des Wohlstands zu leben und sich zu vermehren, was sie sehr rasch taten.
Nach den beiden Orkanen sah der Wald in der Nähe der Müllkippe aus, als hätten an verschiedenen Stellen Riesenfäuste hineingeschlagen. Viele Bäume standen nicht mehr, sie waren geknickt worden wie Streichhölzer, hingen quer und wurden von noch stehenden gehalten.
So war ein regelrechter Urwald entstanden, der es Fahrzeugen unmöglich machte, die schmalen Waldwege zu benutzen.
Ratten fanden immer einen Weg. Besonders dann, wenn sie der Geruch von Blut lockte.
Das fetteste Tier stand auf dem Gipfel der Kippe, hielt die Schnauze gegen den Wind und schnupperte den Geruch, der herangeweht wurde. Die Quelle konnte nicht weit entfernt liegen, sonst wäre die Unruhe der Ratte nicht so groß gewesen.
Daß hinter ihr Artgenossen die Flanke des Müllbergs hochtobten, darum kümmerte sich das Tier nicht. Es raste plötzlich los, als wollte es eine Meisterschaft gewinnen.
Ratten kommen überall durch, heißt es!
Auch dieses Tier machte keine Ausnahme. Kein Hindernis war zu groß oder zu wuchtig, um nicht von ihm übersprungen zu werden.
Es fand seinen Weg durch dichtes Gras und sah den Wald wie ein gewaltiges Gebirge vor sich.
Der Blutgeruch hatte sich verstärkt.
Die Ratte huschte schneller voran. Sie war aufgeregt, wollte den roten Saft schlecken, denn für sie war es eine Delikatesse.
Der Nager wühlte sich in den Wald hinein. Sein Körper verschwand fast im Boden. Er war kaum zu sehen, als er sich vorarbeitete, Hindernisse überwand, wobei ihm die querliegenden Bäume keine Schwierigkeiten bereiteten. Wenn die Ratte sie übersprang, sah es so aus, als könnte sie fliegen.
Irgendwo in der Dichte des Waldes befand sich das Ziel. Es mußte durch den gewaltigen Orkan erst zum Vorschein gekommen sein, um den Geruch auszuströmen.
Aber wo?
Die Ratte blieb irgendwann stehen. Sie hockte sich auf ihre Hinterpfoten, drehte dabei den Kopf, um den süßlichen Geruch genau ausloten zu können.
Weit brauchte sie nicht mehr zu gehen. Voller Aufregung schabte sie über den weichen Boden, der noch die Nässe des letzten Regens aufgesammelt hatte.
Dann huschte sie weiter.
Der Boden, ansonsten bretteben, zeigte sich an gewissen Stellen verändert. Er zeichnete den Verlauf der Landschaft nach, bildete kleine Hügel und auch Gräben, überdeckt vom Gewirr zahlreicher Pflanzen und vom Muster der gefallenen Zweige und Äste gezeichnet, die ein regelrechtes Flechtwerk bildeten.
Die Ratte schlüpfte hindurch.
Auf einmal sah sie das Ziel. Kein Zweifel, das mußte es sein, auch wenn von der Süße des Blutes bisher nur etwas zu riechen, aber nichts zu sehen war.
Eine graue Masse schob sich groß aus dem dunklen Grün des Waldes hervor. Es war ein riesiger Klotz. Die Ratte wußte genau, daß sie ihr Ziel erreicht hatte. Noch sah sie das Blut nicht, roch es nur.
Der Gestank war intensiver geworden. Scharf und beißend drang er an ihre Nase, und die Ratte entwickelte eine hektische Aggressivität.
Sie kratzte und suchte ihren Weg. Sie umrundete den gewaltigen Klotz und zeichnete durch ihre Bewegungen genau das Viereck des Steinpodestes nach.
Auf diesem Podest stand der Kopf!
Ein Mensch hätte ihn schon längst als Riesenschädel identifiziert.
Die Ratte nahm dies nicht wahr, sie irritierte nur der Geruch des Blutes.
Kann ein Stein bluten?
Darüber konnte ein Tier wie dieser Nager nicht nachdenken. Die Ratte wollte an die süßliche Flüssigkeit heran, sie stemmte sich auf die Hinterbeine und sprang. Der massige Körper wischte schattenhaft an der
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