064 - Marotsch, der Vampir-Killer
Jolischka reichte dem fremden
Besucher die Hand und nahm dann an dem kleinen runden Tisch Platz.
»Das ganze Dorf spricht von Ihnen«, sagte Nagy und sah den Fremden
eingehend an. »Man freut sich, daß ein so interessanter Mensch hier Station
macht und sich für die jüngste Vergangenheit Jolischkas interessiert.«
Iwan nickte. Er hatte einen doppelstöckigen russischen Wodka vor
sich stehen. Iwans Gesicht war gerötet, doch das kam nicht vom Alkohol allein.
Der Russe hatte immer ein frisches Aussehen, »lch habe von Ihrem Marotsch
gehört. Deshalb bin ich hier.«
Nagy lächelte. »Unser Marotsch, ja.« Er sagte es so, als handele
es sich um ein von allen geliebtes Wesen, das vor einiger Zeit Jolischka
verlassen hatte. »Immerhin sprechen Sie den Namen schon richtig aus.«
»Das ist kein Kunststück.«
»Und Sie wissen auch, was er bedeutet?«
»Ungefähr.«
Nagy rückte näher an den Tisch heran. Die Gespräche rundum ginggen
weiter. Niemand kümmerte sich um sie. In der separaten Ecke waren sie
verhältnismäßig ungestört. Nagy wurde ernst. »Marotsch bedeutet vieles. Er war
Vampir und Vampir-Toter! Aber nicht nur das. Er war Dämon und Hexer. Und das
ist er noch heute. Ein Marotsch wird immer wiederkommen, wie der Sommer auf den
Frühling folgt. Aber er wird dann einen anderen Ort aufsuchen, um das ruchlose
Verbrechen zu begehen. Und niemand kann ihn daran hindern.«
»Erzählen Sie mir mehr über diesen Marotsch!« Iwan wollte aus dem
Mund von Emerich Nagy wissen, wie er die Sache sah.
Emerich Nagy schürzte die Lippen. »Es gibt Dinge, über die man
nicht sprechen sollte, Genosse Kunaritschew.«
Die Unterhaltung fand in russischer Sprache statt. Nagy sprach ein
ausgezeichnetes Russisch.
Nagy nickte. »Ja. Aber es liegt dennoch in Ihrem Interesse, wenn
Sie diese Dinge erst gar nicht beschäftigen.«
Nagy wartete einen Moment, ehe er darauf antwortete. »Vermutlich.
Eben weil hier kein Mensch das mit Gewißheit weiß, lassen wir die Finger
davon.«
»Aber vielleicht wäre es notwendig, sich Gewißheit zu verschaffen.
Ich bin ein neugieriger Mensch. Das bringt mein Beruf so mit sich.«
»Neugierde kann den Tod bringen!«
»Aber man weiß es nicht. Vielleicht steckt aber noch mehr
dahinter. Könnten Sie es verantworten daß es vielleicht einen anderen Ort gibt,
von dem der verderbliche Einfluß ausgeht?«
»Wie meinen Sie das?« Nagy wurde hellhörig.
»Der Marotsch ist wieder da, Bürgermeister!«
Emerich Nagy kniff die Augen zusammen. Er sah nachdenklich, aber
nicht erschrocken oder verwundert aus. »Das wäre nichts Besonderes, Genösse
Kunaritschew.« Der Magyare griff nach seinem Bierglas und nahm einen langen herzhaften
Schluck. »Der Marotsch kommt immer wieder. Irgendwohin. Man kann ihn nicht
ausmerzen. Er wird Vampire machen und Vampire töten. Wo er auftaucht, ward die
Zeit stehen, und seltsame Ereignisse werden sich jagen. Denn als Dämon und
Hexer überwindet er die Grenzen dieser Welt. Er ist von dieser Welt – und
gehört doch nicht zu ihr. Hier, in Jolischka, stand die Wiege des Marotsch. Wir
konnten es nicht verhindern, aber Jolischka braucht nichts mehr zu fürchten.
Der Tribut dieses Dorfes ist gezahlt. Wir haben den Marotsch vertrieben.«
»Wo verschwand der Marotsch? Sagen Sie es mir!«
Der Bürgermeister des kleinen Dorfes leckte sich über die Lippen.
»Es gibt diesen Ort, den Ihnen niemand nennen wollte. Auf halbem Weg nach
Soitor. Alle aus Jolischka meiden diese Stelle. Auch die Kinder sind gewarnt
und spielen dort nicht. Es ist ein unheimlicher Ort! Schon am Tag! Wie es
nachts aussieht, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich war nie dort. Einmal, das ist
passiert, als ich noch ein Junge war, soll ein Kind vom Feld seines Vaters
weggelaufen und zu der alten Lehmhütte gegangen sein. Man hat das Kind später
nie wieder gefunden. Nach diesem Vorfall hat es nie einen zweiten gegeben. Wir
fürchten Marotsch nicht, aber wir machen um die Behausung, die er benützte,
einen großen Bogen. Heute nur noch Ruine, ist der Flecken Erde in den letzten
Jahrzehnten von keines Menschen Fuß mehr berührt worden.«
»Zeigen Sie mir die Ruine!« Kunaritschew sagte es wie aus der
Pistole geschossen.
Emerich Nagv sah ihn an, als hätte er nicht richtig gehört. »Aber…
Sie meinen: jetzt?«
»Ja, warum nicht? Es ist noch nicht Mitternacht, also keine
Geisterstunde. Ich habe es manchmal sehr, eilig meine Neugierde zu stillen…«
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»Am Tag sieht man mehr, Genosse Kunaritschew«,
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