0652 - Der Bogie-Mann
wir nicht mit dem Wagen dorthin fahren können?«
»Nein, die Gegend ist zu unwegsam. Da kommst du einfach nicht weiter.« Sie hakte sich bei mir ein. »Los, ich will keine Zeit mehr verlieren.«
Über Tippy konnte ich nur den Kopf schütteln. Ebenso wie über ihre beiden etwas älteren Schwestern Esther und Marion. Die drei lebten zusammen, nannten sich Künstlerinnen und beschäftigten sich mit der Mode ebenso wie mit der Töpferei oder dem Malen von abstrakten Bildern, weil sie eine neue Kunstrichtung herausfinden wollten.
Sie waren kreativ, begeistert, für alle Strömungen offen - und glaubten an den Bogie-Mann.
Esther, die älteste der drei Schwestern, kannte meinen Vater. Weil Esthers Eltern ebenfalls in Lauder lebten und dort ein kleines Geschäft betrieben.
Es ging hin und her - her und hin, jedenfalls war zuerst mein Vater überzeugt worden, bevor er es geschafft hatte, mich zu überzeugen. Natürlich kannte ich die Geschichten um den Bogie-Mann, die erzählt wurden. Früher häufiger als heute. Da hatte man unartigen Kindern erzählt, dass der BogieMann sie holen würde, wenn sie nicht gehorsam wurden. In der heutigen Zeit hatten sich die Methoden der Erziehung geändert, doch es sollte noch immer Eltern geben, die auf die Drohung mit dem Bogie-Mann zurückgriffen. Als dann Menschen verschwanden, war der teuflische Killer wieder in aller Munde gewesen. Selbst in London hatte ich darüber gelesen, die Geschichten allerdings für Enten gehalten, die mithalfen, ein Sommerloch zu stopfen.
Tippy lief wie eine Gazelle. Sie fand mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit den Weg durch das nahe Ufergeröll, hüpfte über kantige Steine und kleine Grasinseln, ständig begleitet vom Rauschen des Wildbachs.
Den See konnte ich sehen. Er lag unter uns wie eine große runde Pfütze. Umgeben von Steinhängen und kargen Matten. Eine Straße zum See gab es nicht.
Wir liefen nicht mehr so steil bergab. Der Bach wurde ebenfalls nicht mehr von hohen Felswänden eingeschränkt, lief jetzt breiter dem Zufluss zu und hatte sich verteilt wie die Zweige eines gesunden Laubbaums.
Um keine nassen Füße zu bekommen, sprangen wir über die kleinen Arme hinweg.
Nicht weit entfernt entdeckte ich im Schatten eines Hangs ein Steinhaus und eine alte Mühle, die nicht mehr in Betrieb war. Ich wollte von Tippy wissen, ob dort jemand wohnte.
»Nein, nicht mehr. Offiziell nicht. Hin und wieder übernachten Wanderer dort.«
»Aha.«
Sie nahm meine Hand und schob mich nach rechts. »Es ist nicht mehr weit, John.«
Wir liefen dorthin, wo ein schmaler Holzsteg über einen kleinen Bachlauf führte. Unter ihm und auch bis an das rechte Ufer hin hatten einige dunkle, vom Wasser geformte Steine einen Wall gebildet, auf den Tippy zeigte.
»Da ist es!«
»Also unter den Steinen.«
»Wir räumen sie gemeinsam weg.« Ihre Stimme hatte den hellen, frischen Klang verloren. In ihr vibrierte so etwas wie Furcht vor den kommenden Ereignissen.
Tippy packte zuerst zu. Sie wusste genau, wo sie anzufangen hatte, und wies mich ebenfalls ein.
Gemeinsam rollten wir die Steine weg und legten eine Höhle frei.
»Da ist es!«, flüsterte Tippy, als sie einen Schritt zurücktrat. »Hast du deine Lampe griffbereit?«
»Klar.« Ich holte die kleine Leuchte hervor. Tippy stand neben mir. Sie nagte mit den Schneidezähnen an ihrer Unterlippe. Auf ihrem Gesicht lag ein gespannter Ausdruck.
Im schrägen Winkel stach der fingerbreite Strahl in das Loch - und traf ein Ziel.
Was ich sah, war furchtbar!
***
Zusammengekrümmt, als hätte man ihn zu einer Kugel rollen wollen, lag dort ein Mensch. Ich sah die dunklen Haare, die Schultern, auch den Rücken. Dies alles in einer Lage, die völlig unnatürlich war. Als hätte man ihm das Rückgrat oder die Knochen gebrochen. Der Kopf lag schief. Haare waren ausgerissen worden. Nur ein Teil der Haut schimmerte normal, der andere zeigte dicke Krusten Blut.
Der Mann war jung, kein Kind mehr, und es hatte ihn so grausam erwischt, dass ich nur den Kopf schütteln konnte. Tippy hatte sich abgewendet. Ich schaltete die Lampe aus, blieb neben ihr stehen und legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Du hast es gewusst, nicht?«
»Ja.«
»Warum liegt er noch hier? Du hättest die Polizei rufen müssen, Mädchen.«
»Ich habe doch dir Bescheid gegeben.«
»Stimmt schon. Hier hätten die Experten der Spurensicherung nachschauen müssen.«
»Das geht eben nicht mehr.«
Ich räusperte mich. »Kanntest du den jungen
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