0669 - Engel der Vernichtung
der Hand gerissen. Gerade noch rechtzeitig. Er hatte gesehen, daß Rhett Saris nicht das Eis berührt hatte. Der Junge war nicht infiziert worden.
Vielleicht war es das wert. Altes gegen junges Leben. Raffael Bois starb, damit Rhett Saris leben konnte. Vielleicht hätte es eine andere Möglichkeit gegeben, aber nicht in jener Situation, nicht in jenem Augenblick.
Das Visofon leuchtete auf und zeigte ihm einen Anruf. Die Einblendung des Computers verriet, daß Nicole Duval von Zamorras Arbeitszimmer aus versuchte, ihn per Rundruf zu erreichen. Er schaltete sein Terminal ab, ehe der Kontakt effektiv zustande kommen konnte.
Mit der eisglitzernden Frosthand griff er nach einem Stift und begann zu schreiben.
»Ich gehe nun. Meine Zeit ist vorüber, und ich will niemanden gefährden. Suchen Sie außerhalb des Châteaus nach mir und versuchen Sie meinen Körper zu vernichten, so wie Sie in der Antarktis das Camp vernichtet haben. Mehr kann ich nicht tun. Und, bitte - grüßen Sie alle herzlich von mir, die mich kannten und vielleicht ein wenig schätzten. Noch etwas: Ein Dhyarra-Kristall 8. Ordnung ist unglaublich stark. Vielleicht bedarf es eines Machtkristalls, die in ihm wohnende Kraft zu zerstören. Es war mit Ihnen allen eine wunderbare Zeit. Es gibt nichts, was ich beklagen müßte. Mögen Sie alle noch lange und glücklich leben.«
Er fügte seine Unterschrift hinzu, steckte den Stift ein. Prüfend las er den Text, den er verfaßt hatte. Die Schrift war etwas krakelig, weil er darauf verzichtet hatte, Hand und Arm abzustützen. Er wollte nicht noch mehr Dinge infizieren als nötig - schon gar nicht das Papier, auf dem er seine letzten Lebenszeichen niedergeschrieben hatte.
Mit der linken, noch nicht vereisten Hand öffnete er eine Schublade, die ein wenig klemmte, weil er sie seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Er nahm eine Pistole heraus. Keiner im Château wußte, daß Raffael eine Waffe besaß. Rasch prüfte er das Magazin und steckte die Pistole ein. Dann verließ er seine Unterkunft, ließ die Tür offen und eilte, so schnell seine alten Beine ihn trugen, durch das Château und nach draußen. Über den Hof, durch das Tor, hinaus auf die Straße, hinaus in Richtung Tal.
Er blieb auf der Straße, damit man ihn auf jeden Fall finden und seinen Körper zerstören konnte. Lieber wäre er querfeldein ins Nichts gegangen, oder hätte sich von den Regenbogenblumen in eine andere Welt oder eine andere Zeit bringen lassen. Vielleicht, überlegte er kurz, in die Vergangenheit des Kristallplaneten der DYNASTIE DER EWIGEN, um ihre Herrschaft durch diese Frostmagie auszulöschen. Aber das hätte nur ein weiteres Zeitparadoxon hervorgerufen. Und es hätte weitere Unschuldige getötet.
Das war das letzte, was Raffael Bois gewollt hätte.
Er ging hinaus in die Kälte des späten Nachmittags. Die ersten Anzeichen der Dämmerung kamen bereits. In einer Stunde würde es dunkel sein. Aber das Eis, das ihn mehr und mehr durchzog, würde trotzdem funkeln und glitzern und leuchten. Er wußte es.
Als er vielleicht einen Kilometer weit gegangen war, die Serpentinenstraße hinab, blieb er stehen. Er sah hinab ins Tal, das nun gar nicht mehr weit entfernt war. Sah das kleine Dorf mit all den Menschen, die er kannte und schätzte. Er drehte sich um und sah zum Château zurück.
Da war ein tiefer, entsetzlicher Schmerz. Er hatte noch lange nicht gehen wollen, aber jetzt mußte er es. Tröstlich war nur, daß der Junge überleben würde. Irgendwie wußte Raffael, daß Rhett nicht infiziert war. Das Böse, das sich in dem alten Mann festzusetzen und auszubreiten begonnen hatte, zischte es ihm zornig zu.
Da lachte er triumphierend auf.
Er entsicherte die Waffe, und nie war ihm trotz seines Triumphes eine Bewegung schwerer gefallen als die, mit der er die Pistolenmündung an seine Schläfe setzte und abdrückte.
***
Nicole fand ihn eine halbe Stunde später.
Als er sich über Visofon nicht meldete, hatte sie ihn gesucht; sie ahnte, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Er hatte den Kristall immerhin berührt! Und wo Rhett ein geradezu unwahrscheinliches Glück hatte, hatte Raffael Pech gehabt.
Es ging aus seinem Abschiedsbrief hervor.
Den Dhyarra-Kristall 4. Ordnung in der Hand, eilte Nicole ihm nach. Sie kannte ihn gut genug um zu wissen, wohin er sich wenden würde. Sie fand ihn am Straßenrand. Die Waffe noch in der Eishand, das Metall selbst bereits von Eis überzogen. Aus der Schläfe eine Spur von rotem, sich allmählich
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