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0683 - Monster aus dem Schlaf

0683 - Monster aus dem Schlaf

Titel: 0683 - Monster aus dem Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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ihr moralischer Verfall, die öffentliche Prostitution, die Betrunkenen, die in den Hauseingängen lagen, und die Paare, die ohne Trauschein zusammenlebten und die es nicht scherte, dass ihre Kinder als Bastarde aufwuchsen.
    Sie traten all die Werte, die St. John Robertson als wahrer viktorianischer Gentleman auf Eliteschulen und Universitäten erfahren hatte, mit Füßen. Für ihn waren sie schlimmer als Tiere.
    Er seufzte leise, als er daran dachte, dass er noch vor einer Woche jeden ausgelacht hätte, der ihn im East End gesehen haben wollte. Niemals, so hatte er geglaubt, würde er einen Fuß in diese Hölle aus Lastern und Sünden setzen. Und jetzt verbrachte er jeden Abend dort, manchmal bis der Morgen graute.
    Whitechapel, Aldgate, Brixton, Mile End, Elephant & Castle - die Namen der einzelnen Stadtviertel, aus denen sich das East End zusammensetzte, waren ihm mittlerweile so vertraut wie die Colleges von Oxford und Cambridge.
    Und das alles nur, weil sein Lao Shi eine Bedrohung spürte. Nur deshalb patrouillierte sein gelehrigster Schüler, Sir Henry, Nacht für Nacht durch die schmutzigen Straßen. Wenn er wenigstens gewusst hätte, welche Form diese Bedrohung annehmen sollte oder wer bedroht war. Aber dazu hatte der Lao Shi nichts gesagt…
    »Suchst du ein wenig Gesellschaft, Fremder?«, fragte in diesem Moment eine verraucht klingende, weibliche Stimme.
    Überrascht fuhr Sir Henry herum. Er hatte geglaubt, allein in der schmalen Gasse zu sein.
    »Nein«, entgegnete er automatisch.
    Der Anblick, den die Frau bot, als sie in den schmalen Lichtstreifen trat, der von der Straße in die Gasse fiel, bestätigte ihn in seiner Reaktion.
    Sie sah aus, als wäre sie weit über fünfzig, aber in Wahrheit, so schätzte Sir Henry nach seinen Erfahrungen, war sie vermutlich nicht älter als 45. Aus ihrem verlebten, vom Alkohol gezeichneten Gesicht blickten ihm milchig blaue, müde Augen entgegen. Sollte die Frau jemals Hoffnung gekannt haben, so hatte sie die längst verloren. Die aufreizende Pose, in der sie sich vor ihm darbot, wirkte wie eine Karikatur.
    »Ein so ehrenwerter Gentleman in einer solchen Gegend«, sagte sie mit schwerer Zunge. Ein Blick auf Sir Henrys vornehme dunkle Kleidung hatte gereicht, um ihn als einen Freier einzustufen, der ihr die Miete für die nächste Woche sichern konnte. »Du bist doch nur aus einem Grund hier - und Polly hat alles anzubieten, was du dir vorstellen kannst.«
    »Verschwinde.«
    Sir Henry wollte sich an ihr vorbeischieben, aber die Prostituierte, die sich Polly nannte, versperrte ihm den Weg.
    »Nur einen Shilling, und ich gebe dir die Freuden des Himmels gleich hier auf der Erde. Ich bin sauber und gesund, du kannst jeden hier fragen.«
    Der Adlige roch ihren sauren Atem und musste würgen.
    »Hau ab!«, rief er mit erhobenem Gehstock. »Du widerst mich an.«
    Polly spuckte wütend vor ihm aus.
    »Ich hoffe, die Pest holt dich!«, geiferte sie und wandte sich ab.
    Sir Henry nutzte die Gelegenheit, um die Gasse, die ein verrostetes Schild als Buck’s Row identifizierte, zu verlassen. Rasch tauchte er zwischen den Nachtschwärmern, Taschendieben und Bettlern unter.
    Mehr als zwei Stunden später irrte er immer noch auf seiner ziellosen Suche nach einer namenlosen Bedrohung durch die Straßen und Gassen von Whitechapel. Er begegnete singenden irischen Bauarbeitern, drängte sich seinen Weg durch betrunkene Menschenmengen vor lärmenden Bars und entging nur um Haaresbreite einer Schlägerei.
    Die ganze Zeit über beobachtete er. Sein Blick glitt über Gesichter und Häuserfassaden, aber nichts weckte sein Interesse. Wenn es wirklich etwas gab, das in dieser Nacht im East End lauerte, dann hatte es sich gut verborgen.
    Glaubte er, bis ihn das schrille Trillern einer Polizeipfeife in einen Laufschritt verfallen ließ.
    Das Geräusch riss nicht ab. Sir Henry folgte ihm, bis er sich auf der Straße wiederfand, die er nach seiner Begegnung mit Polly betreten hatte.
    Seine Schritte wurden langsamer, als er die kleine Menschenmenge sah, die sich am Beginn der Buck's Row gebildet hatte.
    Ein junger Polizist blies mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht auf seiner Pfeife und verlangte so nach Verstärkung. Er wirkte verstört.
    Henry schob sich durch die Menge, bis er einen klaren Blick in die Gasse werfen konnte. Was er sah, verschlug ihm für einen Moment den Atem.
    Die Laterne des Polizisten stand auf dem Boden. Um sie herum hatte sich eine dunkle Pfütze gebildet, deren

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