0691 - Schwester der Nacht
Vivien träumte davon, wie sich die Dunkelheit über Paris senkte und kein Mensch mehr die Möglichkeit hatte, ihren Fangzähnen zu entkommen…
Die Vampirin riss sich aus ihren Fantasien los. War ihr Blutdurst schon wieder stärker geworden? Bald würde sie ihn aufs Neue befriedigen können…
Ihr Blick fiel auf die beiden Apachen Jean und Eduard. Mit totenbleichen Mienen saßen sie Vivien Lafayette in der Kutsche gegenüber. Einst waren sie Halsabschneider gewesen. Nun sehnten sie sich als frisch gebackene Vampire danach, endlich selber einmal das Blut von lebenden Menschen trinken zu dürfen…
Gehorsam warteten sie auf die Befehle ihrer Herrin. Die beiden Ganoven waren Vivien Lafayette hörig. Schließlich war sie es, die ihnen zum ewigen Scheinleben einer schwarzmagischen Kreatur verholfen hatte.
Vivien dachte über eine Warnung nach, die einer ihrer höllischen Mentoren ihr eingeflüstert hatte. Es gab da einen Mann, der ihre Pläne durchkreuzen konnte. Angeblich sollte er aus der Zukunft kommen und Zamorra heißen.
Die Vampirin hatte gelernt, dass sie besser auf die Hinweise aus den Schlünden des Fegefeuers hörte. Das war schließlich ihre Welt. Sie selbst hatte allerdings keine Zeit, sich persönlich um diesen Zamorra zu kümmern.
Vivien konzentrierte sich ganz auf Napoleon III.
»Ich habe einen Auftrag für euch«, verkündete sie, während die verhangene Kutsche weiter durch das nächtliche Paris jagte.
Jean und Eduard blickten sie mit ihren leeren Blutsauger-Augen starr an.
»Ein Mann namens Zamorra will meine Pläne durchkreuzen«, erklärte die Vampirin. »Ich befehle euch, ihn zu finden und zu töten. Saugt ihm auch den letzten Tropfen Blut aus.«
»Ja, Herrin«, sagte Jean mit dumpfer Stimme, die wie das Knarren eines Sargdeckels klang. »Und wo sollen wir diesen Zamorra finden?«
Vivien Lafayette lachte auf.
»Ich dachte, ihr beiden Lumpenhunde kennt alle Spelunken und Bars von Paris. Hört euch um, noch diese Nacht! Morgen früh müsst ihr ohnehin in meiner Gruft verschwunden sein. Sonst holt euch die Sonne…«
Die Vampirin betonte den Namen des Tagesgestirns wie einen bösen Fluch. Jean und Eduard fletschten die Zähne. Obwohl sie erst kurze Zeit Vampire waren, fürchteten und hassten sie die Sonne bereits aus ganzem schwarzen Herzen.
Sie hätten die Sonne gerne vernichtet. So wie sie Zamorra vernichten würden…
***
Horst Hardenberg nuckelte an einer Weinflasche.
Der Althippie und Langzeitstudent aus Göttingen in Deutschland fröstelte. Und dagegen half nun einmal Rotwein am besten. Es war schlimm genug, dass er dieses Jahr nicht im Sommer zum Grab von Jim Morrison hatte pilgern können. Nun war es schon Herbst, sogar in Paris war es saukalt. Doch Hardenberg hockte unverdrossen auf der Grabplatte und sprach dem Wein zu.
Der legendäre Sänger der Doors war auf dem Friedhof Père-Lachaise beigesetzt worden. Das war nun schon so viele Jahre her, dass Hardenbergs Haare damals noch nicht grau gewesen waren.
Man konnte dem Althippie einiges nachsagen - aber wankelmütig war er nicht. So wie ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler jedes Jahr seinen Urlaub an einem österreichischen See verlebte, pilgerte auch Horst Hardenberg stets aufs Neue nach Paris, um seinem Idol Jim Morrison zu huldigen. Meist traf man jede Menge anderer Fans, weshalb die Gegend um das Grabmal auch eher an ein Openair-Konzertgelände erinnerte als an einen Friedhof.
Die Grabsteine waren mit Graffiti beschmiert und überall lag Müll herum. Aber das störte Hardenberg nicht. Schließlich hinterließ er ja selbst hier etliche leere Weinflaschen und Zigarettenpackungen.
An diesem kühlen Pariser Morgen war wirklich weit und breit niemand zu sehen. Außer seiner Langzeit-Freundin Gudrun, an die er nun die Weinpulle weiterreichte.
Horst Hardenberg strich sich die schulterlange Mähne aus dem Gesicht. Er fürchtete nichts so sehr wie Haarausfall. Außer vielleicht, dass die Uni ihn eines Tages an die Luft setzen würde. Wo er doch schon im 41. Semester war…
Plötzlich ertönten knirschende Schritte auf dem Kiesweg.
Hardenberg blickte auf. Ob noch ein paar Freaks kamen, um dem Doors-Sänger zu huldigen?
Erschrocken riss der deutsche Student seine blauen Augen auf.
Ein Mann und eine Frau spazierten an ihm und Gudrun vorbei. Beide waren offenbar nicht von dieser Welt!
Der Mann trug einen taubengrauen Gehrock mit Seidenweste und breiter Krawatte. Sein Hals wurde von einem Stehkragen eingeengt. Auf dem Kopf
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