07 - komplett
hoch.
Hinter der Scheibe und den Samtvorhängen hörte sie Gelächter, was sie nur noch mehr anspornte, zu erfahren, was im Zimmer vorging. Sie stellte den Fuß auf einen schmalen Mauervorsprung und zog sich nach oben auf das Fenstersims.
Zwischen den Vorhängen klaffte ein kleiner Spalt, kaum vier oder fünf Zentimeter breit. Mary erhaschte einen Blick auf etwas Rotes und Grünes und beobachtete, wie ihre Schwester mit einem Korb in den Händen vorbeieilte. Mehr konnte sie jedoch nicht erkennen. Also hielt sie sich an der Mauer fest und versuchte, sich zur Seite zu beugen, um mehr von dem Zimmer erspähen zu können.
Da rutschte sie plötzlich ab, taumelte nach hinten und spürte zu ihrem Entsetzen, wie sie zu stürzen drohte.
„Oh, verflixt!“, rief sie und versuchte verzweifelt, sich am Fenstersims festzuhalten.
Vergeblich. Den harten gefrorenen Boden berührte sie dennoch nicht. Mitten im Fall schlossen sich zwei starke Arme um sie und fingen sie auf.
„Was um Himmels willen tust du da?“, hörte sie Dominicks tiefe Stimme nah an ihrem Ohr. Er setzte sie nicht ab, sondern hielt sie fest an sich gedrückt, als sei sie nicht schwerer als eine Schneeflocke. Dann legte er sein Kinn auf ihren Kopf.
Offenbar hatte er keine Eile, sie wieder loszulassen.
Mary versuchte, ihre Würde wiederzugewinnen, was nicht leicht war, wenn man beim Spionieren erwischt wurde und dabei auch noch zu Boden ging. „Ich wollte bloß sehen, ob ihr meine Hilfe im Salon benötigt.“
„Hättest du da nicht an die Tür klopfen und fragen können?“
„Deine Tante hat mich auf einen Spaziergang geschickt.“
Dominick lachte, sein Atem strich über ihr Haar. „Na, dann hast du doch deine Antwort. Außerdem habe ich alles im Griff.“
Mary lachte nun auch und strampelte mit den Füßen, obwohl sie eigentlich nicht wollte, dass er sie absetzte. Noch nicht. „So wie letzte Nacht?“ Sie umschlang seinen Nacken.
Er hob sie in seinen Armen an seine Brust, ohne ihr Gelegenheit zu geben, mit den Füßen den Boden zu berühren. „Ich war gestern gut in Form, möchte ich behaupten.“
„Und du bist auch so bescheiden“, neckte Mary.
„Ehrlichkeit ist wichtiger als Bescheidenheit“, sagte er und küsste sie sanft auf die Lippen. „Und die Wahrheit ist, die letzte Nacht war die schönste meines Lebens.“
Mary erwiderte seinen Kuss, innig, lange. Sie wollte sich ganz genau daran erinnern können, wie er sich anfühlte und schmeckte, wie es war, wenn sein Atem weich ihre Haut streichelte. Der Wind war eisig geworden, doch sie spürte es nicht, denn vor Glück war ihr ganz heiß. „Für mich ebenfalls. Ich habe dich so sehr vermisst, Dominick.“
„Ich habe dich auch vermisst.“ Er ließ sie langsam zu Boden gleiten.
Den Kopf an seine Brust gelehnt, lauschte sie dem regelmäßigen Pochen seines Herzens.
„Ohne dich war mein Leben nicht vollkommen, Mary.“
Ebenso wenig war ihr Leben ohne ihn vollkommen. All die Jahre hatte sie sich nur als halber Mensch gefühlt und nicht einmal gewusst, warum. Wenn sie sich dieses Mal nach Weihnachten trennten und nach London zurückkehrten, würde sie sich erneut wie zerrissen fühlen. Würde diese Wunde jemals heilen?
Nun, sie würde das Beste aus dem machen müssen, was sie hatte – diesem Weihnachtsfest. „Dominick, mein Lieber?“, flüsterte sie.
„Ja, Mary?“
„Was geht im Salon vor?“
Er lachte und ließ sie los. Nun, da sie nicht mehr in seinen Armen lag, wurde ihr wieder kalt, und sie zitterte. „Du bist durchgefroren. Komm, lass uns ins Haus gehen.“
„Und in den Salon?“
„Nicht vor heute Abend!“
„Gib mir die Hand, Mary“, sagte Ginny. „Ich helfe dir.“
Mary konnte durch den Schal über ihren Augen überhaupt nichts erkennen, und ihr war leicht schwindelig. Sie hörte, wie ihre Schwester aufgeregt um sie herumflatterte. In der Luft lag ein würziger Duft nach frischem Immergrün, Wachskerzen und Zimt. Genau so sollte Weihnachten duften.
Mary streckte die Hand aus und ließ sich von ihrer Schwester die Treppe hinunterführen. „Nicht so schnell, Ginny, sonst falle ich noch.“
„Das werde ich schon verhindern. So – und die letzte Stufe.“
Mary raffte mit der freien Hand ihr Kleid, damit sie nicht über den Saum stolperte und kopfüber zu Boden stürzte. Sie wünschte, sie hätte etwas Farbenfroheres als graue Seide zur Verfügung gehabt. Ihr Kleid erschien ihr so wenig weihnachtlich, obwohl sie mit Ginnys Hilfe ein rotes Band um Ärmel und
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