070 - Neues vom Hexer
vollkommen allein«, sagte er. »Selbst sein Helfer war in diesem Fall ein ganz unschuldiger Bursche, der keine Ahnung davon hatte, daß er nur die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich lenken sollte.«
»Ist übrigens etwas Neues von ihm bekannt?« fragte Colonel Walford. Bliss schüttelte den Kopf.
»Er ist in London. Davon war ich schon seit einiger Zeit überzeugt, aber jetzt habe ich die Bestätigung. Wenn man mir vor ein paar Jahren gesagt hätte, daß sich ein Mann durch einfache Verkleidung der Verfolgung der Polizei entziehen kann, hätte ich ihn ausgelacht. Aber die Verkleidung und Masken dieses Mannes sind unübertrefflich.
Er ist tatsächlich die Person, deren Rolle er im Moment spielt. Wenn ich daran denke, wie er den Spitzel Freddy mit den vorstehenden Eckzähnen und den entzündeten Augen gespielt hat, bin ich noch heute sprachlos. Wer hätte auch daran gedacht, daß er falsche Zähne über seinen eigenen befestigen, sich die Augenlider rot schminken und den Bart stehenlassen könne? Diese wenigen Maßnahmen genügten, um selbst mich zu täuschen. Und dabei bin ich einer der wenigen Leute, die ihn ohne Verkleidung gesehen haben. Es ist ihm wieder einmal gelungen, mich hinters Licht zu führen.«
»Woraus schließen Sie, daß er in London ist?« Der Chefinspektor nahm einen Brief aus seiner Tasche. »Das kam heute morgen.« Colonel Walford starrte ihn an. »Was – ein Schreiben vom Hexer?« Bliss nickte. »Die Mitteilung ist mit derselben Schreibmaschine geschrieben wie die Nachricht an Miska Guild. Die >e< stehen nicht in der Zeile, und die i-Punkte sind abgenützt.«
Colonel Walford setzte seine Brille auf und las.
Der zum Tode verurteilte Michael Benner ist vollkommen unschuldig. Ich glaube, diese Tatsache ist Ihnen auch bekannt, denn als Sie bei seinem Prozeß als Zeuge gegen ihn auftraten, erwähnten Sie alles, was irgendwie zu seinen Gunsten sprechen konnte. Lee Lavinski ist der Mörder des alten Mannes. Er wurde aber nach der Tat von Benner gestört, bevor er die Beute an sich nehmen konnte. Zwei Tage nach dem Mord ging er nach Kanada. Seien Sie menschenfreundlich und helfen Sie mir, Benner zu retten.
Das Schreiben trug wie gewöhnlich keine Unterschrift.
»Was halten Sie denn davon?« fragte der Colonel.
»Der Hexer hat recht«, entgegnete Bliss ruhig. »Benner hat den alten Estholl nicht ermordet – ich habe auch feststellen können, daß Lavinski zur Zeit der Tat in England war.«
Das Verbrechen, über das sie sprachen, hatte das Interesse der breiten Masse nicht geweckt, da die Schuld des Angeklagten über jeden Zweifel erhaben schien und seine Verurteilung von vornherein erwartet wurde. Estholl war ein reicher siebzigjähriger Mann, der in einem kleinen Hotel in Bloomsbury gewohnt hatte. Wie alle Leute, die sich aus kleinen Verhältnissen in die Höhe gearbeitet haben, hatte er die leichtsinnige Angewohnheit, stets große Geldsummen bei sich zu tragen.
An einem Wintermorgen um vier Uhr hatte ein Gast des Hotels, der in seinem Wohnzimmer mit mehreren Freunden Karten spielte, den Raum verlassen und war auf den Korridor hinausgetreten. Dort sah er Benner, den Nachtportier, der gerade aus dem Zimmer des alten Herrn kam. Der Mann war kreidebleich, trug einen blutbefleckten Hammer in der Hand und war so verwirrt, daß er nicht antworten konnte, als der Gast ihn anrief.
Dieser eilte in das Zimmer des alten Estholl und sah den Mann in einer großen Blutlache auf dem Bett liegen.
Nachdem der Portier verhaftet worden war, machte er seine Aussage. Er war auf ein Klingelzeichen hin zu Estholl gegangen. Als er auf sein Klopfen keine Antwort erhielt, öffnete er die Tür und trat ein. Er sah das Mordwerkzeug auf dem Bett liegen und nahm es mechanisch auf, erschrak aber so sehr, daß er nicht wußte, was er tat.
Benner war jung verheiratet und in finanziellen Schwierigkeiten. Er brauchte dringend Geld und hatte an demselben Abend versucht, von der Hotelbesitzerin sieben Pfund zu leihen. Auch mit dem Hauptportier hatte er sich unterhalten.
»Sehen Sie doch einmal den alten Estholl«, hatte er gesagt. »Wenn ich nur halb soviel hätte, wie der in der Tasche herumträgt, brauchte ich mich nicht abzuquälen!«
Bei der Gerichtsverhandlung in Old Bailey beteuerte Benner seine Unschuld, aber sein Prozeß dauerte kaum einen Tag und endete mit seiner Verurteilung.
»Der Hammer war Eigentum des Hotels«, erklärte Bliss, »und Benner hatte Zutritt zu dem Raum, in dem die Werkzeuge aufbewahrt werden.
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