0700 - Aphilie
viel sie sich heute leisten konnten. Bei einem Leben wie dem ihren war Geld immer knapp, und bis nach Borneo waren es immerhin noch gute zweitausend Kilometer.
Sie waren bis auf drei oder vier Leute, die noch vor ihnen standen, an den ersten Automaten herangekommen, als es geschah - plötzlich, unerwartet und ohne Anlaß. An einer der weiter vorne stehenden Maschinen hatte sich einer der Kunden nach der Ansicht des Mannes, der hinter ihm stand, zuviel Zeit genommen. Der Ungeduldige, ein mittelgroßer, grobknochiger Mann unbestimmten Alters, drängte sich mit einem knurrenden Laut nach vorne, rammte dem Saumseligen den Ellbogen in die Seite und begann nun, selber seine Wahl zu treffen.
Unwillkürlich wurde es still in dem langgestreckten Raum.
Instinktiv spannten sich Sergios Muskeln. Er wußte, was nun kommen würde, und die andern, die den Zwischenfall beobachtet hatten, wußten es auch.
Eine schrille, quäkende Pfeife begann zu plärren. Das war das Signal. Das Gesetz über den Umgang der Menschen miteinander, Absatz drei: im Alltag, Paragraph vierzehn: bei Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen, war verletzt worden. Eines der Aufnahmegeräte hatte den Verstoß bemerkt und gemeldet.
*
Der Mann, der sich auf so rüde Weise zu seinem vermeintlichen Recht verhelfen hatte, stutzte zunächst, als er die Pfeife quäken hörte. Er wandte sich ein wenig von der Maschine ab, aus der er seine Mahlzeit hatte beziehen wollen, und drehte sich so, daß Sergio sein Gesicht sehen konnte. Es war ein hageres Gesicht mit ungesunder, gelblicher Haut und unangenehmen Zügen.
Plötzlich wurde er blaß. Die Bedeutung des Pfeifengequäkes schien ihm aufgegangen zu sein. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er in Richtung des Eingangs. Ein gurgelnder Schrei brach ihm über die Lippen.
„Nein!"
Dann sprang er. Er durchbrach die Reihe derer, die sich vor den Maschinen angestellt hatten, mit wild schwingenden Armen trieb er die Leute auseinander. Mit weiten Sätzen hetzte er auf den Ausgang zu.
Draußen - das konnte Sergio durch die offene Tür sehen - zögerte er eine halbe Sekunde, unschlüssig, nach welcher Seite er sich wenden solle. Und mit einemmal ließ er die Arme hängen und senkte den Kopf. Er bot ein Bild der absoluten Mutlosigkeit, und wenige Augenblicke später konnte man erkennen, was es war, das ihm den Mut geraubt hatte.
Von rechts her schoben sich zwei Ka-zwos ins Blickfeld. Der eine trug die reguläre, gelbbraune Uniform, der andere zusätzlich eine rote Markierung am Revers, die ihn als übergeordneten Roboter auswies. Er mußte zufällig in der Gegend gewesen sein, denn bei der Bestrafung von geringfügigen Vergehen, wie hier eines vorlag, war die Anwesenheit eines Aufsehers grundsätzlich nicht notwendig.
Die beiden Roboter führten den Mann in das Restaurant zurück.
Eines der Prinzipien des aphilen Strafvollzugs war, daß die Strafe nach Möglichkeit am Tatort selbst und in Anwesenheit derjenigen, die auch Zeuge des Vergehens gewesen waren, vollzogen werden solle. Der untergeordnete Robot sprach den Straffälligen mit wohlmodulierter Stimme an: „Du hast das Gesetz über den Umgang der Menschen miteinander - Absatz drei: im Alltag, Paragraph vierzehn: bei Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen - gebrochen. Das Aufnahmegerät hat die Tat aufgezeichnet. Die Aufnahme wurde mir zugespielt. Ich erkenne dich anhand der Aufnahme einwandfrei wieder. Hast du noch eine Frage?"
Der Gelbhäutige bewegte die Lippen und formte ein „Nein", aber ein Laut war nicht zu hören. Dem Roboter jedoch schien die Antwort zu genügen.
Er hob den Arm. Zwanzig Newtonmeter - das war die kinetische Energie eines Kilogrammgewichtes, das aus etwa zwei Metern Höhe herabfiel. Ein ziemlich wuchtiger Schlag, den manches Knochengerüst nicht ohne Nachwirkung auszuhalten vermochte.
Der Gelbhäutige stand still, aber sein Blick war ängstlich nach oben gerichtet, wo die harte Faust des Ka-zwo über ihm hing.
„Jetzt!" sagte der Roboter freundlich.
Die Faust sauste herab und traf mit dumpfem Aufschlag die Schulter des Straffälligen. Der Mann schrie laut auf und ging in die Knie. Ein paar Sekunden lang hockte er mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden. Dann sprang er auf und lief davon. Die beiden Roboter wandten sich ebenfalls ab und spazierten mit gravitätischen Schritten davon.
„Ich habe auf einmal keinen Hunger mehr", sagte Sylvia halblaut.
Sergio erwachte aus tiefer Nachdenklichkeit.
„Hunger?" brummte er.
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