Glut der Verheißung - Kleypas, L: Glut der Verheißung - Seduce me at sunrise
Erstes Kapitel
London, 1848, Winter
Für Win war Kev Merripen schon immer wunderschön gewesen, auf eine Weise, wie eine karge Landschaft oder ein Wintertag wunderschön sein können. Er war ein hochgewachsener, beeindruckender Mann, kompromisslos in jeder Hinsicht. Seine exotisch verwegenen Gesichtszüge waren die perfekte Kulisse für Augen, so dunkel, dass die Iris kaum von der Pupille zu unterscheiden war. Sein Haar war dick und rabenschwarz, seine Brauen dicht und gerade. Und seinem breiten Mund wohnte stets ein grüblerischer Zug inne, was Win einfach unwiderstehlich fand.
Merripen. Ihre Liebe, aber nie ihr Geliebter. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, als er von ihrer Familie regelrecht adoptiert worden war. Obwohl die Hathaways ihn immer wie einen der ihren behandelt hatten, sah er sich in der Rolle eines Dieners. Eines Beschützers. Eines Außenseiters.
Er kam zu Wins Schlafzimmer, stand lautlos an der Türschwelle und sah zu, wie sie eine Tasche mit persönlichen Utensilien von ihrer Frisierkommode packte. Eine Bürste, eine Schatulle mit Haarnadeln, eine Handvoll Taschentücher, die ihre Schwester Poppy für sie bestickt hatte. Während Win die Dinge in ihre Ledertasche legte, spürte sie auf einmal Merripens reglose Gestalt. Sie wusste, was hinter seiner schweigsamen Fassade lauerte, denn sie quälte dasselbe unstillbare Verlangen.
Der Gedanke, ihn zu verlassen, brach ihr schier das Herz. Und dennoch blieb ihr keine andere Wahl. Sie war eine Invalide, seit sie vor zwei Jahren am Scharlachfieber erkrankt war. Sie war dürr und zerbrechlich, erschöpft und stets der Ohnmacht nahe. Eine schwache Lunge, hatten die Ärzte einstimmig erklärt. Sie würde der Krankheit zwangsläufig erliegen. Ein Leben lang Bettruhe halten, um dann einen frühen Tod zu erleiden.
Win wollte ein solches Schicksal nicht hinnehmen.
Sie sehnte sich danach, gesund zu werden und all die Dinge zu genießen, die die meisten anderen Menschen als selbstverständlich hinnahmen. Tanzen, lachen, lange Spaziergänge machen. Sie wollte die Freiheit haben, zu lieben … zu heiraten … eines Tages ihre eigene Familie zu gründen.
Solange ihr gesundheitlicher Zustand jedoch dermaßen angeschlagen war, war ihr nichts dergleichen vergönnt. Aber das sollte sich ändern. Noch an diesem Tag brach sie zu einem französischen Sanatorium auf, in dem ein tatkräftiger junger Arzt, Julian Harrow, erstaunliche Resultate bei Patienten wie ihr erreicht hatte. Seine Behandlungen waren unkonventionell, umstritten, doch Win interessierte das nicht. Sie hätte alles getan, um geheilt zu werden. Denn erst, wenn dieser Tag anbräche, könnte sie Merripen haben.
»Geh nicht«, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstand.
Mit großer Anstrengung gelang es Win, sich gelassen zu geben, obwohl ihr ein heißes und kaltes Kribbeln den Rücken hinabrann.
»Schließ bitte die Tür«, brachte sie mühsam hervor.
Die Unterhaltung, die nun folgen würde, erforderte eine gewisse Privatsphäre.
Merripen rührte sich nicht. Eine leichte Röte hatte sein bronzefarbenes Gesicht überzogen, und seine schwarzen Augen leuchteten wild und ungezähmt, was ihm eigentlich gar nicht ähnlich sah. In diesem Moment war er ganz Angehöriger der Roma, und seine Gefühle waren näher an der Oberfläche, als er es normalerweise zuließ.
Sie schloss eigenhändig die Tür, während er ihr auswich, als könne jeder noch so kleine körperliche Kontakt zwischen ihnen verheerende Folgen haben.
»Warum willst du nicht, dass ich gehe, Kev?«, fragte sie sanft.
»Du wärst dort nicht sicher.«
»Ich bin dort vollkommen sicher«, sagte sie. »Ich habe großes Vertrauen zu Dr. Harrow. Seine Behandlung erscheint mir vernünftig, und er hat eine hohe Erfolgsquote …«
»Er hat genauso viele Fehlschläge wie Erfolge. Es gibt bessere Ärzte hier in London. Du tätest besser daran, erst alle Möglichkeiten hier in England auszuschöpfen.«
»Ich glaube, dass meine besten Chancen bei Dr. Harrow liegen.« Win lächelte in Merripens harte schwarze Augen, verstand sie die Dinge doch nur zu gut, die er nicht aussprechen konnte. »Ich komme zu dir zurück. Das verspreche ich.«
Er überging ihre Worte. Jeder Versuch ihrerseits, ihre wahren Gefühle zum Ausdruck zu bringen, wurde von ihm stets mit unnachgiebiger Zurückhaltung bestraft. Er würde niemals zugeben, dass er etwas für sie empfand, oder sie anders behandeln
als eine schwächliche Invalide, die seines Schutzes bedurfte.
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