071 - Gefangen in den Bleikammern
Arkebusenkugeln der Soldaten wüteten unter den Wölfen. Mehr als zwanzig der Bestien lagen tot im Garten. Die überlebenden Wölfe ergriffen panikartig die Flucht.
Sie liefen auf die Felder zu, wurden von den Soldaten verfolgt.
„Mein Vater!" sagte ich überrascht. „Und mein Bruder Marino!"
Die beiden kamen auf das Haus zu.
„Hier bin ich!" brüllte ich und beugte mich aus dem Fenster. „Ihr müßt vorsichtig sein! Im Haus befinden sich einige Werwölfe!"
Wir hörten wieder Schüsse.
„Wir müssen fliehen, Michele!" sagte Selva. „Dein Vater wird mich zurück ins Gefängnis bringen lassen."
„Das werde ich verhindern", sagte ich. „Laß das nur meine Sorge sein!"
Sie sah mich prüfend an, dann lächelte sie.
„Verzeih mir!" sagte sie.„ Ich dachte nicht daran, daß du ja die Erinnerung an deine früheren Leben zurückerhalten hast."
Ich lächelte verzerrt. Bleib nur bei deinem Glauben, daß du mich getäuscht hast! dachte ich.
Mein Vater war ziemlich überrascht, Selva zu sehen. Er sperrte sie in ein fensterloses Zimmer ein und ließ sie von drei Soldaten bewachen.
Ich fiel Marino in die Arme. Es kam mir unendlich lange vor, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte sich nicht verändert. Marino war etwas kleiner als ich. Sein Gesicht wurde von einer Narbe verunstaltet, die vom linken Auge bis zum Kinn reichte.
„Dein Auftauchen ist eine gewaltige Überraschung, Marino", sagte ich und löste mich aus der Umarmung.
Marino grinste.
„Ich kam gerade noch rechtzeitig", sagte er. „Ich hatte von einem Osmanen gehört, daß sie auf einem geenterten Schiff einen Überlebenden fanden. Ich sprach mit dem Mann. Er war ein Werwolf. Und er erzählte mir eine unglaubliche Geschichte. Jacopo habe das Schiff überfallen. Dabei wäre er von einem Werwolf gebissen worden. Ich fuhr sofort los und vermutete, daß Jacopo die Saat der Lykanthropen nach Venedig geschleppt hatte. Als mir dann Vater von deinem nächtlichen Erlebnis mit einem Wolf erzählte, war mir alles klar. Augenblicklich fuhr ich mit meinen Söldnern nach Torcello. Wir nahmen Silberkugeln mit. Den Rest weißt du."
Wir umarmten uns wieder. Ich war froh, daß er gekommen war. Dann dachte ich an Selva, und meine Freude sank. Sie mußte endgültig unschädlich gemacht werden. Es hatte wenig Sinn, wenn sie zurück ins Gefängnis gebracht wurde. Mit ihren Fähigkeiten konnte sie sich jederzeit wieder befreien.
„Was machen wir mit Selva?" fragte ich.
„Wir bringen sie ins Gefängnis", sagte mein Vater.
„Das halte ich nicht für besonders klug."
„Weshalb nicht?"
„Sie tötete einige Wachen", sagte ich rasch, „kam hierher und tötete dann Jacopo. Die Richter werden vermuten, daß wir ihr bei der Flucht geholfen haben. Kein Mensch wird glauben, daß sie aus eigener Kraft fliehen konnte - auch wenn sie eine Hexe ist."
„Hm, das hat etwas für sich", brummte Vater.
„Ich habe einen Plan", sagte ich.
„Erzähle!" bat Marino.
Ich brachte meinen Plan vor. Mein Vater war dagegen, doch meinen Bruder konnte ich überzeugen. Schließlich willigte auch mein Vater ein.
Selva würde ihre verdiente Strafe erhalten.
Es war noch dunkel, als wir die Boote erreichten, mit denen mein Bruder zu. Insel gekommen war. Ich stieg mit Selva und einigen Söldnern in eines der Boote und setzte mich zu Selva, die mich interessiert anblickte.
„Ich habe mit meinem Vater gesprochen", sagte ich leise. „Er wollte dich zurück ins Gefängnis bringen, doch ich konnte ihn umstimmen. Du mußt für einige Zeit verschwinden. Wir bringen dich auf eine Insel."
„Dein Vater war damit einverstanden?" fragte sie mißtrauisch.
„Ja, es blieb ihm keine andere Wahl. Das Inquisitionsgericht darf auf keinen Fall erfahren, daß du auf Torcello gewesen bist. Sie würden sonst glauben, daß wir dir bei deiner Flucht geholfen haben, und meinen Vater, meinen Bruder und mich verfolgen und einsperren. Das willst du doch nicht?" „Ich verstehe", sagte sie.
„Auf der Insel bleibst du einige Zeit", sprach ich weiter. „Sie werden dich suchen, aber dich nicht finden. Mein Bruder blieb auf Torcello. Er wird die Spuren verwischen. In ein paar Tagen komme ich zu dir. Wir können dann mit dem Schiff meines Bruders fliehen."
Sie hatte keine Einwände. Ich wunderte mich, denn was ich ihr erzählte, klang nicht sehr plausibel. Das Boot stieß ab. Selvas Nähe war mir alles andere als angenehm. Wir kamen rasch vorwärts. Das Boot schoß förmlich über das
Weitere Kostenlose Bücher