071 - Gefangen in den Bleikammern
hatte.
„Du kannst mich nicht täuschen, verfluchtes Biest!" brüllte ich sie an. „Du bist am Tod unzähliger Menschen schuld. Du hast sie getötet, damit du dein kümmerliches Leben behältst. Ich verabscheue dich und dein heuchlerisches Getue. Du hast mich nie geliebt, verfluchte Hexe."
Sie prallte zurück.
„Niemand kann dich jetzt retten, Dämon. Kein Mensch wird deine Zelle betreten. Du wirst vertrocknen, zu einer häßlichen Wurzel verdörren, du unmenschliches Geschöpf. Du hast mich lange genug getäuscht, doch damit ist es jetzt vorbei. Ich will mein eigenes Leben führen. Für dich ist darin kein Platz. Wie konntest du nur so dumm sein und glauben, daß ich ein Monster lieben kann, das aus einer Pflanze entstand?"
Ihr Gesicht veränderte sich erschreckend. Ihre Augen wurden groß. Ich wandte rasch den Kopf ab und schlug die Klappe zu, denn ich wußte über ihre unheimlichen Fähigkeiten Bescheid und wollte nicht noch einmal in ihren Bann geraten.
„Du hast meine Liebe mit Füßen getreten, Michele", hörte ich sie schreien. „Du hast mich getäuscht, mich belogen. Ich bin froh, daß ich jetzt weiß, wie du über mich denkst. Ich werde mich rächen, das verspreche ich dir. Ich werde dich finden, in welchem Körper auch dein Geist steckt. Du wirst deine Worte teuer zu bezahlen haben. Ich werde fliehen. Du schätzt meine Fähigkeiten zu gering ein, wenn du glaubst, daß mich diese Mauern aufhalten können."
Ich hatte von ihren unsinnigen Worten genug. Wieder hatte sie diesen Blödsinn von meinem wandernden Geist erwähnt.
Ich rümpfte die Nase und verließ das Irrenhaus. In der Ferne hörte ich sie noch immer schreien. Nachdem ich nochmals mit Guiseppe Malipiero gesprochen hatte, verließ ich die Insel. Das Boot brachte mich nach Torcello zurück. Nichts deutete mehr auf die Ereignisse der vergangenen Nacht hin. Die Wölfe waren alle getötet worden. Bei Tagesanbruch hatten sie sich zurückverwandelt. Die Neger und mein Bruder wurden begraben.
Ich dachte an Selvas Drohung, nahm sie mir aber nicht zu Herzen. In den letzten Stunden hatte ich mich geändert; ich war nicht mehr so furchtsam.
Mein Vater fuhr nach Venedig zurück; ich blieb mit meinem Bruder Marino auf der Insel.
In der Nacht hatte ich seltsame Träume. Sie drehten sich alle um Georg Rudolf Speyer. Immer mehr Einzelheiten seines Lebens wurden mir bewußt. Die Erinnerungen verfolgten mich auch den ganzen nächsten Tag.
Schließlich gab es für mich keinen Zweifel mehr: Ich wußte, daß ich tatsächlich schon früher gelebt hatte. Und mir wurde klar, wie sehr ich Selva unrecht getan hatte. Ich hatte mich getäuscht. Es war alles ein Mißverständnis gewesen.
Ich wollte zu ihr und sprach mit meinem Bruder, doch er weigerte sich, mir ein Boot zu geben. Mir blieb nur eine Möglichkeit. Ich mußte ein Boot stehlen und Selva aus dem Irrenhaus befreien.
Doch dazu kam es nicht mehr.
Am Nachmittag traf mein Vater ein. Er war kreidebleich.
„Selva ist geflohen", sagte er und setzte sich müde. „Sie richtete ein wahres Blutbad auf der Insel an. Guiseppe Malipiero ist tot. Selva floh mit einem Boot. Immer wieder schrie sie, daß sie sich rächen würde. Sie würde Michele da Mosto töten.
Marino blickte mich an.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren", sagte er. „Wahrscheinlich wird Selva dich zuerst in Venedig suchen. Wir fahren zu meiner Galeasse. Die Gentile Bellini ist bereit, in See zu stechen."
„Wohin willst du fahren?" fragte ich.
„Nach Kandia", sagte er.
Es gab nicht viel zu überlegen. Ich willigte ein. Nachdem ich jetzt meine Erinnerung an meine früheren Leben zurückerhalten hatte, wußte ich, daß Selvas Worte keine leere Drohung waren. Sie haßte mich von nun an.
„Jetzt wißt ihr, weshalb mich Hekate so haßt", sagte der Dämonenkiller.
„Nur, weil Sie sie auf diese Insel gebracht haben?" fragte Trevor verwundert. „Das scheint mir kein ausreichender Grund zu sein."
„Darum geht es gar nicht, Trevor", schaltete sich Coco ein. „Der springende Punkt liegt ganz woanders."
„Und wo?"
„Hekate, alias Selva Farsetti, glaubte, daß Dorian an dem Zeitpunkt, als er sie nach San Clemente brachte, seine Erinnerung an sein Leben als Georg Rudolf Speyer zurückerhalten hatte. Und er glaubte, daß sie ihm die Erinnerung nur eingepflanzt hatte. Sie dürfen nicht vergessen, daß Hekate damals wie eine normale Frau dachte. Sie hatte Dorian als Georg Rudolf Speyer geliebt. Speyer hatte gewußt, daß sie aus einem
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