0718 - Das Dorf der Toten
zweifelsfrei verschlossen war.
»Ich habe nichts damit zu tun«, sagte er. »Gar nichts.«
»Aber du gehörst zu ihnen.«
Karls gespenstische Augen schienen sich zu verdüstern. »Das dachte ich, sonst wäre ich nicht zurückgekommen. Aber es war ein Irrtum. Sie haben sich nicht geändert. Er hat sich nicht geändert.«
»Er?«
»Mein Bruder.«
Zamorra erhob sich. Wider Erwarten gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten. Dann half er Nicole auf die Beine. Gemeinsam traten sie auf Karl zu.
»Dein Bruder?«, fragte Nicole Das Gesicht des Jungen verzog sich vor Ekel. »Er ist schuld an allem, was hier seit mehr als hundert Jahren passiert - und nicht aufhören wird zu passieren.«
»Seit mehr als hundert Jahren? Aber wenn er dein Bruder ist, müßtest du…«
»Wie alt würdet ihr mich schätzen?«, fiel Karl Zamorra ins Wort.
»Du redest wie ein erwachsener Mann, aber deinem Aussehen nach auf zehn. Zwölf?«
»Fast«, sagte Karl und verschränkte die mageren Arme vor der Brust. »Ich wurde geboren, als dieser Ort hier gegründet wurde.«
Für einen Moment sah es aus, als würde er sich an dem Staunen seiner Mitgefangenen weiden.
»Und was diesen Mann angeht, den ihr zu kennen meint. Er lebt nicht mehr. Darauf kann ich euch Brief und Siegel geben, egal ob ihr ihn gesehen habt oder nicht. Er lebt sowenig wie die meisten hier.« Er schürzte die Lippen. »So wenig wie ich…«
***
»So wenig wie du?« Zamorra trat noch einen Schritt auf Karl zu. »Willst du damit sagen, dass…?«
»Wer seid ihr?«, unterbrach ihn der Junge, der sich dem Vernehmen nach nicht zu den Lebenden zählte. »Ihr seid nach Elkhart gekommen, weil ihr diesen Mann gesucht habt?«
»Weich nicht aus«, sagte Zamorra. »Beantworte meine Frage: Wieso behauptest du, nicht zu leben? Hat es mit deinen Augen zu tun?«
Wieder kam eine wie zusammenhanglos wirkende Gegenfrage: »Was seht ihr, wenn ihr das Siegel betrachtet?«
»Das Siegel?«
»Draußen auf dem Dorfplatz.«
»Dieses absurde Denkmal, das mir einen toten Freund vorgaukelte?« Zamorra tauschte einen kurzen Blick mit Nicole. »Wir beide, sie und ich, sahen das Monument völlig unterschiedlich. Jeder von uns ist überzeugt, eine andere Person darin zu erkennen.«
»Die er vermißt«, sagte Karl.
»Ja«, bestätigte Zamorra widerwillig. Und fügte hinzu: »Was siehst du darin? Es muss einen Grund haben, dass du danach fragst.«
»Ich sehe mich darin«, sagte Karl. »Jeder Erweckte sieht darin sich selbst wie in einem dunklen Spiegel.«
Zamorra atmete hörbar aus und ein. »Jeder Erweckte? Du willst sagen, du warst tot, wurdest aber wiedererweckt?«
Karl lächelte vieldeutig.
»Darf ich?« Zamorra streckte seine Hand aus.
Bereitwillig legte Karl seinen Arm hinein.
Zamorra tastete nach dem Puls. »Dein Herz schlägt. Dein Körper ist warm…«
»Ich sagte nicht, dass ich tot bin.«
Zamorra lachte gereizt. »Was bezweckst du mit dieser Farce?«
»Es ist keine Farce. Es ist nur schwierig zu erklären.«
»Versuch es trotzdem.«
»Ich weiß nicht, ob uns dafür noch die Zeit bleibt. Mir…«
»Was heißt das?«
»Mein Bruder hat bereits angekündigt, dass er Gericht über mich halten wird - und ihr beide werdet ebenfalls nicht ungeschoren davonkommen. Ihr habt eure Chance vertan.«
»Du sagtest, dein Bruder sei schuld an den hiesigen Verhältnissen. Wieso? Rede! Erzähle uns, was er deiner Meinung nach verbrochen hat. Hat er die Menschen auf dem Gewissen, die zufällig in euren Ort kamen? All die Leute, die in den namenlosen Gräbern eures Friedhofes liegen? Wird jeder getötet, den es nach Elkhart verschlägt? Aber dann müßten es schon viel mehr Kreuze sein, und dann müßte Nicole sich getäuscht haben, als sie meinte, den Mann in der Menge entdeckt zu haben, nach dem wir suchen.«
Karl zog seine Hand zurück. In seinen Augen tobte eine Art Sturm. Geisterhafte Schlieren bewegten sich darin. Manche erinnerten an winzige, grauenerregende Chimären.
Schließlich holte der Junge, der uralt sein mußte, wenn er die Wahrheit sagte, tief Luft und sagte: »Mein Bruder ist deshalb schuld daran, dass Elkhart zu einem Ort der Verdammnis wurde, weil der Fluch mit ihm begann. Er ist der Erwecker. Der Mann, der die Leichen bittet, sich wieder mit Leben zu füllen. Mit Leben - aber nicht mit -mit Seele…«
***
Zur gleichen Zeit:
ES sprach zu Urban Nestor. In seinen Gedanken, seinem Fühlen, seinem Sein: ›Sie sind etwas Besonderes. Ich kann es spüren. Sie sind mehr
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