0726 - Halias Höllenreiter
gekommen.
Sie verließ sich ausschließlich auf Rationalität und Logik. Wenn Antoine sie aufziehen wollte, nannte er sie daher liebevoll-spöttisch Miss Spock.
Und nach den Gesetzen der Logik konnte in diesem Zimmer nichts Bedrohliches sein.
Oder ist vielleicht ein ausgehungerter Tiger unter dem Tisch versteckt?, dachte Jane selbstironisch. Ein solches Vieh würde ich wohl riechen…
Die Schritte der Inderin entfernten sich. Sie ging den Tee holen.
Nun war Jane Westley in dem unheimlichen Raum allein…
Unfug, sagte sie sich. Es gibt keine unheimlichen Räume. Wahrscheinlich herrscht hier nur Zugluft…
Jane betastete weiterhin die Kleinode auf der Tischplatte.
Es gab buddhistische Stupas [3] in Miniatur-Ausführung, Nachbildungen des Taj Mahal und anderer indischer Bauwerke, kleine Statuen von Kriegern, von Kuhhirten, von Göttern und Halbgöttern.
Die Engländerin fuhr mit den Fingerkuppen über die bronzenen Gegenstände. Jeder von ihnen hatte seinen Reiz. Obwohl sie nicht an solche Dinge glaubte, war es Jane, als würde sie so etwas wie den Atem der Jahrhunderte spüren.
Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit einige dieser Kunstwerke von fleißigen Händen gefertigt worden waren?
Plötzlich berührte Jane eine weitere Bronzestatue.
Es war, als würde eine Totenklaue nach ihrem Herzen greifen. Die metallene Oberfläche fühlte sich genauso glatt und sauber gearbeitet an wie bei den anderen Kleinoden.
Und doch unterschied sich diese Figur gewaltig von den anderen.
Sie hatte den Wind der Bosheit, den Jane beim Betreten des Raumes schon empfunden hatte, in einen Orkan verwandelt.
Irritiert betastete Jane das geheimnisvolle Standbild. Was stimmte nicht damit? Stellte es vielleicht einen grauenvollen Dämon dar? Die indische Mythologie war mit Scheußlichkeiten schließlich reich gesegnet.
Aber das konnte nicht der Grund sein. So weit Jane es ertasten konnte, sollte die Statue lediglich eine Tänzerin verkörpern.
Wahrscheinlich sogar eine Tempeltänzerin. Und das war nun alles andere als Furcht einflößend.
Das beklemmende Gefühl blieb. Es wurde sogar noch stärker, obwohl die Engländerin das nicht für möglich gehalten hätte.
Sie versuchte, die Bronzestatue der Tänzerin zur Seite zu schieben.
Aber ihre Hände verweigerten Jane ihren Dienst. Sie konnte diese… diese böse Statue nicht loslassen. Auch wenn sie es noch so gerne wollte.
Es war völlig unmöglich. Es ging einfach nicht. Ihre Finger klebten an dem Metall, als ob sie magnetisch wären.
Und noch etwas hatte sich verändert. Vorhin wäre die Blinde am Liebsten schreiend hinausgelaufen. Dieses Gefühl hatte sich verändert. Sie fürchtete sich sehr vor dieser Statue.
Aber gleichzeitig fürchtete sie sich noch mehr vor dem Gedanken, die Statue wieder zu verlieren.
Jane Westley wollte dieses Kunstwerk kaufen. Sie konnte nicht ahnen, dass sie auf eine Suggestion dieses nur scheinbar so leblosen Gegenstandes hereinfiel…
Schritte näherten sich. Ein Löffel klirrte in einer Tasse. Es roch nach Tee mit Milch.
Die Inderin kehrte zurück.
»Gefällt Ihnen unser Angebot, Memsahib?«
Die Blinde nickte. Sie spürte, dass ihre Hände zitterten. Auf den Innenflächen hatte sich ein feiner Schweißfilm gebildet.
»Ich habe hier eine Statue gefunden, die ich gerne kaufen würde.«
Die Inderin lächelte. Erst vor kurzem hatte Mr. Masref noch behauptet, dass sich niemals jemand für dieses scheußliche Ding interessieren würde.
Die Tänzerinnen-Skulptur war ein echter Ladenhüter. Irgendwann war sie in den Besitz von Mr. Masrefs Vater gelangt, der vor seinem Sohn das Geschäft geführt hatte.
Und während der ganzen langen Zeit hatte nie jemand dieses missgestaltete Ding haben wollen…
Die Inderin stellte den Tee ab und führte Janes Hand an die Tasse.
»Eine ausgezeichnete Wahl, Memsahib! Eine Bronzearbeit aus dem 12. Jahrhundert, aus der Provinz Rajastan. Dargestellt wird eine Tänzerin, die der Göttin Kali huldigt.«
Erst jetzt bemerkte Mr. Masrefs Assistentin, wie nervös und fahrig die Kundin aus dem fernen Europa plötzlich wirkte.
»Kali - ist das nicht so eine Art Unglücksgöttin?«
»Nicht ganz, Memsahib. Kali ist die Göttin des Todes und der Zerstörung. Aber nach unserem Glauben muss alles, was entstanden ist, auch einst wieder zerstört werden. Darum ist Kali die notwendige Gegenspielerin von Brahma, der aus dem Urelement Wasser alles erschaffen hat.«
»Wie auch immer.« Die blonde Europäerin schien gar
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