0728 - Angst in den Alpen
wie wenig die Menschen im Ort wußten, wie ahnungslos sie waren und wie sehr sie sich darüber wundern würden, wenn Trudi ihr Wissen preisgegeben hätte.
Doch davor würde sie sich hüten.
Wer Königin werden wollte, der mußte schweigen können und erst dann anfangen zu reden, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.
Dann würde man im Ort nur staunen, dann zerbrach die Furcht, der Druck würde fliehen, aber die anderen Kräfte kehrten zurück. Sie waren dann frei, und die vergangene Zeit lebte wieder auf.
Niemand wußte, daß gerade Trudi es war, die eine derartige Botschaft empfangen hatte. Nicht das man sie nicht für voll genommen hätte, aber es gab wohl keinen, der sich hätte vorstellen können, daß eine Person wie sie einen derartigen Kontakt hatte.
Bis auf eine Ausnahme!
John Sinclair!
Trudi dachte an ihn, und sie wunderte sich darüber, daß ihre Gedanken nicht einmal in eine negative Richtung liefen. Der Mann war ihr sympathisch gewesen, nur durfte sie sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen, daß er auf der anderen Seite stand. Er war der Polizist, und er war gekommen, um einen Fall aufzuklären.
Damit war er für sie ein Störfaktor, den sie nicht hinnehmen konnte. Sie und Sinclair standen auf verschiedenen Seiten.
Trudi gab zu, daß er gut war. Aber er würde nicht so gut sein, um ihre Pläne durchkreuzen zu können.
Wichtig war es, daß sie die Dämmerung abwartete. Mit Eintritt der Dunkelheit würde sich einiges verändern. Zwar nicht offen und sichtbar für alle, doch Trudi wußte Bescheid.
Sie stand auf.
Der Sessel schaukelte noch einige Male nach, und Trudi lauschte dem Knarren. Es war ein vertrautes Geräusch für sie. Überhaupt war ihr alles in Glatsch sehr vertraut, nur empfand sie keinen Abschiedsschmerz, als sie an die Veränderungen dachte. Diese konnten nur Positives bringen, wenigstens für sie.
Trudi überlegte, ob sie die Kleidung wechseln sollte, sie entschied sich dagegen. Der dicke Pullover reichte aus, die Jeans ebenfalls. Später würde sich dieses Problem sowieso von selbst lösen.
Sie betrat das kleine Bad und richtete ihr Haar. Diese Frisur, die sie jetzt trug, paßte nicht zu ihr. Sie haßte es, wenn die Haare auf dem Kopf so brav zu einer Schnecke zusammengerollt waren. So etwas kam ihr überhaupt nicht entgegen, da mußte einfach etwas getan werden. Mit hektischen Bewegungen zog sie die Steckklammern hervor, damit sich die Haare endlich lösen konnten. Sie wühlte noch einmal mit den Händen nach, schleuderte sie hoch und strich sie dann mit den gespreizten Fingern nach unten, um die Flut zu bekommen, die sie haben wollte.
Jetzt fühlte sie sich besser.
Nicht daß sie wild ausgesehen hätte, aber die Bravheit war verschwunden. Sie strich zudem mit beiden Händen über ihren Körper, als wollte sie ihn nachmodellieren. Sie konnte sich sehen lassen, auch wenn die dicke Winterkleidung so manches verbarg.
Mit leichten Schritten verließ sie das Bad. Rechts zeichnete sich der Umriß des Fensters ab. Hinter dem schräg liegenden Quadrat hatte sich das Licht verändert.
Die Sonne war untergegangen. Sie versteckte sich jetzt hinter den Bergen. Die Macht der Dämmerung hatte sich in das Tal hineingeschoben. Die Schatten waren noch länger geworden. Zwielicht war entstanden. Es gab dem Ort in den Bergen immer etwas Geheimnisvolles. So als wären die Kräfte der Unterwelt dabei, ihr finsteres Reich zu verlassen und in die Höhe zu kriechen.
Lautlos und doch gewaltig…
Trudi lächelte, bis sie das Klopfen hörte. »Ja, wer ist da?« Ihre Stimme klirrte etwas, und sie stand plötzlich unter einer nicht gelinden Spannung. Sie dachte plötzlich an John Sinclair, aber der war es nicht, der die Tür öffnete.
Ihre Mutter stand auf der Schwelle. Sie war nur zwanzig Jahre älter als Trudi, aber sie sah so verhärmt aus, als hätte ihr das Leben nur Negatives beschert. In der Tat war die Zeit mit Karl nicht leicht gewesen, und so manches Mal hatte Margot Lechner unter ihrer Arbeit gelitten. Aber sie war auch eine Dulderin gewesen und hatte sich nur selten beklagt.
»Mutter?« Trudi war erstaunt. Es kam nicht oft vor, daß Margot sie besuchte.
»In der Tat.«
»Was willst du?«
»Mit dir sprechen.«
»Das ist schön, aber…«
»Bitte, ich muß mir dir reden.«
»Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?«
»Es ist mir jetzt eingefallen.«
Mutter und Tochter standen sich wie zwei Roboter gegenüber. Rede und Gegenrede wechselten sich ab. Ohne Emotionen, sie
Weitere Kostenlose Bücher