0728 - Angst in den Alpen
Lechner war enttäuscht. Daß so gar keine Reaktion von ihrer Tochter kam, damit hätte sie nicht gerechnet. Es war so verrückt, so anders. Die Frau merkte, daß das familiäre Band nicht mehr bestand oder zumindest sehr dünn geworden war.
Trudi hatte sich innerlich längst von ihr entfernt. Dies wiederum wollte sie nicht akzeptieren.
»Bitte, Trudi, warum sagst du nichts?«
»Du hast alles gesagt, Mutter.«
»Und jetzt?«
Trudi hob die Schultern. »Das ist alles mein Problem. Ich muß damit zurechtkommen, darauf kannst du dich verlassen.«
»Gut, aber da wäre noch etwas. Dein Vater und ich möchten, daß du nach dem Nachtmahl bei uns bleibst. Wir werden in der folgenden Nacht zusammenbleiben. Das andere soll keine Chance haben, unsere Familie zu trennen. Das ist es, was ich will.«
Trudi nickte. »Nach dem Essen?«
»Richtig.«
»Gut, ich komme.«
Margot Lechner zweifelte daran. Nicht daß sie sich vor ihrer Tochter fürchtete, aber sie konnte auch nicht an der Wand vorbeigehen, die sich zwischen den beiden aufgebaut hatte.
Sie drehte sich um. »Ich rufe dich dann zum Essen«, sagte sie im Hinausgehen.
»Ja, Mutter.«
Trudi atmete auf, als Margot die Tür hinter sich schloß. Das war überstanden. Knapp genug war es gewesen. Sie ärgerte sich, als sie daran dachte, daß man sie beim Gang ins Schützenhaus beobachtet hatte. Sie würde jetzt noch vorsichtiger sein, das stand fest.
Tief atmete sie durch.
Und sie hörte das Klopfen!
Nicht sehr laut, aber so, daß sie dem Rhythmus folgen konnte. Ihr Magen zog sich zusammen, über den Nacken rann ein Kribbeln. Sie traute sich kaum, dorthin zu schauen, wo sie das Geräusch gehört hatte.
Doch sie mußte es tun.
Auf der Stelle drehte sie sich um. Da war die Wand, da war das Fenster.
Dicht hinter der Scheibe sah sie ein Gesicht. Klein und dabei sehr breit.
Das Gesicht eines Zwergs!
***
Der Mund war zu einem Grinsen verzogen, die Augen glänzten wie Metallkugeln. Dabei sah die Haut aus, als hätte man sie aus brauner Erde gebacken.
Der Zwerg brauchte nicht zu winken, er gab seine Signale mit den Augen. Und Trudi gehorchte. Sie schritt auf das Fenster zu, sie streckte den Arm aus und zog den Hebel hoch, damit die Sperre gelöst wurde. Dann drückte sie die Scheibe nach oben.
Der Wind brachte Kälte mit, die sich im Raum verteilte. Wie eine Gummipuppe »klebte« der Zwerg auf dem schrägen Dach. Er hatte sich irgendwo festgeklammert und ließ auch nicht los. Er nickte noch und forderte Trudi damit auf zu kommen.
»Jetzt?«
Der Zwerg nickte.
»Gut.« Trudi ging zurück. Sie schaltete das Licht aus. Dunkelheit senkte sich über den Raum. Als sie wieder zu ihrem Besucher hineinschaute, da sah er aus, als hätte sich auf seine Gestalt ein grünliches Leuchten gelegt. Es zeichnete seine Konturen nach und hatte sich wie ein Schleier auf seinem Gesicht verteilt, war sogar in die Augen gedrungen, die einen völlig fremden Ausdruck bekommen hatten. Er wirkte so, als wäre er nicht von dieser Welt.
Trudi konnte das Haus nicht auf dem normalen Wege verlassen. Es wäre einfach zu gefährlich gewesen, deshalb kletterte sie aus dem Fenster, und der Zwerg hatte ihr auch Platz geschafft.
Trudi nahm den Weg nicht zum erstenmal. Sie wußte genau, wie sie sich zu bewegen hatte. Ein Griff nach rechts, dann umfaßten ihre Finger das kalte Metall der Leiter. Sie bot einen idealen Halt.
An ihr kletterte Trudi in die Tiefe, und zwar einer Stelle entgegen, von der aus sie zu Boden springen konnte.
Sie kam sicher auf, sackte einmal in die Knie, kam sofort wieder hoch und hörte das leise Lachen des Zwergs, der neben ihr stand. Er freute sich darüber, daß sie es geschafft hatte.
Niemand sah sie.
Es war finster geworden. Auch im Dorf selbst brannten nicht viele Lichter. Außerhalb der Saison sparte man Strom. Die Berge wirkten mit ihren dunklen Umrissen wie unheimliche Aufpasser. Der kalte Wind brachte den Geruch von Schnee mit.
Der Zwerg schaute zu ihr hoch. Er sprach, aber vor seinem breiten Mund zeigte sich kein Atem.
»Du bist bereit, Königin?«
»Ich habe lange genug gewartet.«
»Dann komm.«
Die Rückseite des Hauses lag im Finstern. Der Garten zeigte ein winterliches Bild. Laub lag auf dem Boden. Es knisterte bei jedem Schritt.
Trudi verließ ihr Elternhaus. Sie rannte aus ihrer Heimat fort, und es tat ihr nicht einmal weh.
Was war schon die Größe der vor ihr liegenden Aufgabe gegen das Dasein in ihrem Elternhaus?
Nichts, gar nichts.
Sie hatte ihr
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