0728 - Angst in den Alpen
anderen Frau über das Haar, die daraufhin Trudis Hand losließ. So konnte sie weitergehen.
Es war die normale und trotzdem andere Welt. Da säuselte der Wind über die Bergflanken hinweg.
Er spielte mit den Bäumen, ließ seine dünnen Zweige zittern und brachte sie dabei zum Glänzen, weil sich das silbriggrüne Mondlicht wie eine zweite Haut über die Natur gelegt hatte.
Ein Vogel bewegte sich mit matten Flügelschlägen durch die Luft. Er war sehr groß und paßte von den Proportionen her nicht zu den Bewohnern des Tals.
Wie ein riesiger Schatten durchschwebte er die Luft, nutzte die Gunst der Aufwinde und ließ sich davontragen, als wollte er alle Grenzen und Entfernungen überbrücken.
Diese Welt war anders, sie war einfach wunderbar, sie war ein geheimnisvolles Märchen.
Trudi aber schritt weiter. Nichts durfte sie mehr aufhalten, denn sie mußte ein bestimmtes Ziel erreichen.
Auch auf ihrem Gesicht hatte das Mondlicht seinen Schimmer hinterlassen. Es wirkte sehr künstlich, als wäre es aus Stein gehauen, der im Laufe der Zeit eine gewisse Patina bekommen hatte.
Sie behielt ihr Tempo bei.
Sehr sorgfältig setzte sie ihre Schritte, als hätte sie Furcht davor, etwas zu zerstören.
Der Boden war dunkel, doch nur bis zu einer gewissen Stelle. In einer genau eingeteilten Abgrenzung zeigte er ein bestimmtes Symbol, das sich von der grünlichen Dunkelheit des Erdbodens gut sichtbar abhob.
Es war ein Kreis!
Sehr glatt, nicht zittrig gemalt und im Innern mit zwei ineinandergeschobenen Dreiecken gefüllt.
Dieses Zeichen leuchtete, schien mit einem gewissen Licht gefüllt zu sein.
Es drang tief aus der Erde, es mußte ein Gruß unheimlicher Welten sein.
Der Kreis schimmerte, er lockte, und Trudi sah in ihm ihr eigentliches Ziel.
Davor blieb sie stehen.
Trudi war zu einer seltsamen Gestalt geworden, die sich um ihre Umgebung nicht mehr kümmerte.
Sie stand da und schaute auf das Zeichen. Sie konzentrierte sich und hatte keine Augen mehr für die kleinen Menschen, die aus ihren Verstecken hervorkrochen. Die Zwerge bewegten sich sehr leise und langsam. Sie machten den Eindruck von Schattengestalten, die nicht stören wollten.
Es dauerte ziemlich lange, bis sich Trudi bewegte. Dann hatten eben diese Bewegungen etwas Fließendes an sich. Sie harmonierten wundervoll, sie gingen ineinander über, und sie sahen aus, als wollten sie einer bestimmten Person bestimmte Zeichen geben.
Es war alles ein Fluß, eine Harmonie, und nichts anderes sollte es auch sein.
Die Kräfte zweier verschiedener Welten griffen ineinander, um sich zu einer einzigen zu vereinigen.
Trudi gehörte dazu.
Sie zog sich aus.
Es war nichts Obszönes daran zu erkennen. Auch als sie sich ihrer Kleidung entledigte, sah es so aus, als gehörte es einfach dazu, um diese Welt ganz erforschen zu können.
Raschelnd sanken die einzelnen Stücke neben ihr zusammen. Die Jacke, der Pullover, die Hose. Nur mit einem Slip bekleidet stand sie vor dem Kreis.
Und auch das letzte Stück Stoff fiel.
Nackt stand sie da, umgeben von zweierlei Licht.
Aus dem Himmel floß es silbriggrün auf sie herab. Aus der Erde aber drang es fahl und bleich. Es aktivierte den Kreis mit seinen geheimnisvollen Zeichen, es sorgte dafür, daß der Glanz auch von dieser Seite her auf Trudi überging.
Sie war ein Mensch, aber sie wirkte wie ein Engel, der seine himmlischen Sphären verlassen hatte.
Mit einer ehrfurchtsvoll anmutenden Bewegung hob Trudi die Arme an. Sie streckte sie dem Mond entgegen, als wollte sie durch ihn eine Botschaft empfangen. Minutenlang blieb sie so stehen, bis die Zeit endlich reif war.
Sie betrat den Kreis nicht.
Statt dessen sackte sie auf der Stelle zusammen und blieb im Schneidersitz hocken.
Es war eine Haltung, die sie einnehmen mußte. Sie glich einem Menschen, der meditierte, der seinen Geist auf die Reise schickte, seine Seele befreite, um mit der Natur eins zu werden.
Sie breitete die Arme aus und hob sie so weit an, bis die Fingerspitzen die gleiche Höhe erreicht hatten wie das Ende ihres Kopfes.
Und sie blieb sitzen.
Trudi bewegte ihre Augen, den Kopf legte sie ein wenig zurück, damit sie in die Höhe schauen konnte, um den Mond anzusehen, der sie wie ein Auge anblickte.
Und dann verfiel sie in den Zustand, der kaum zu beschreiben war. Sie balancierte auf der Grenze zwischen Traum und Realität, beobachtet von den zahlreichen Zwergen und ungewöhnlichen Lebewesen, die diese Welt bevölkerten und ebenso wie Trudi auf das
Weitere Kostenlose Bücher