0728 - Angst in den Alpen
Es… es tut mir leid.«
Ich ging weiter. Ich hörte nicht das Knirschen der Steine unter meinen Füßen, weil ich mit meinen Gedanken woanders war. Mir hatten sich völlig neue Perspektiven eröffnet, und schon ahnte ich, daß die Dimensionen des Falles für mich noch gar nicht überschaubar waren. Hier stand ich an der Grenze zu einer Legendenwelt, die sich als sehr gefährlich und tödlich entpuppen konnte.
Ich blieb stehen, als die Schritte meines Begleiters zu hastig wurden. »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt, Herr Lechner? Was hat Sie davon abgehalten?«
»Ich… ich kann es nicht sagen. Vielleicht habe ich mich nicht getraut, ja, das wird es gewesen sein. Ich traute mich nicht, Ihnen das zu erzählen.«
»Aber es gehört dazu?«
»Hätten Sie mir denn geglaubt?«
»Bestimmt.«
Er schüttelte den Kopf und schaute zu Boden. »Wir alle haben Angst davor gehabt. Es ist einfach schlimm gewesen. Es war dieser Druck, den wir aushalten mußten, eben das Wissen, das sie immer wiederkommen würden, um sich einen aus unserer Mitte zu holen. Sie sind böse, Herr Sinclair, sie sind sehr böse.«
»Da will ich nicht widersprechen.«
»Wollen Sie noch weitergehen?«
Ich schaute bis an den anderen Rand der flachen Senke. »Und ob. Für mich wird es jetzt erst interessant.«
»Haben Sie denn keine Furcht, daß etwas schiefgehen könnte?«
»Kaum. Sie müssen bedenken, daß ich ähnliche Dinge gewohnt bin. Und jetzt kommen Sie, sonst verlieren wir uns noch aus den Augen. Genau das will ich vermeiden.«
Es gab keine Deckung in der Nähe. Ich huschte sehr schnell und geduckt weiter. Obwohl die Gegend normal war, kam sie mir doch anders vor. Es lag wahrscheinlich an dem silbrigflimmernden Mondlicht, daß sich dieser Zustand einstellte. Da wurden die Konturen verändert, da flossen sie zusammen, und die Gegend wirkte an einigen Stellen auf mich wie eine Filmkulisse.
Das fließende Wasser glänzte. Unzählige Gesichter schienen sich darin zu bewegen, geschoben, getrieben von den Wellen, um schließlich zu fratzenhaften Gebilden zusammenzufließen. Alles bewegte sich neben unseren Füßen, als wir das Wasser durchschritten. Manchmal kam es mir vor wie ein Spiegel, der hin und wieder geheimnisvolle Orte in einer anderen Welt zeigte.
Wir achteten beide nicht auf die nassen Füße. Zudem war ich an einigen Stellen gesprungen und hatte die flachen Inseln erreicht, die aus dem Wasser schauten.
Naß und glatt war der Kies und die Steine unter unseren Füßen. Wir hielten an, ich schaute nach vorn, konnte die Zwerge aber nicht mehr sehen.
Sie waren uns entwischt!
»Wir sind nicht schnell genug gewesen«, sprach ich Karl Lechner an, der neben mir stehengeblieben war und seine kalten Hände rieb. »So klein sie auch sind, sie waren schneller.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne ja das Ziel.«
»Der Garten…?«
»Ja, aber ich…«, er schluckte. »O Gott, das hätte ich mir nie träumen lassen.« Seine Reaktion änderte sich von einem Augenblick zum anderen. »Verdammt noch mal…«
»Was haben Sie?«
»Dieser Garten ist Legende«, keuchte er, »eine verdammte, eine verfluchte Legende. Man spricht darüber, aber die Furcht bleibt immer. Sie steckt in uns wie ein Messer, dessen Klinge sich tief in die Herzen gebohrt hat.«
»Sie waren noch nie da?«
Er senkte den Kopf. Der Mann schämte sich, es vor mir zugeben zu müssen. Dann flüsterte er: »Sie haben recht, Herr Sinclair. Ich war noch niemals dort.«
»Auch das noch«, stöhnte ich leise. »Aber Sie wissen hoffentlich, wo wir ihn finden können.«
»Möglich.«
»Genauer, bitte.«
Er hob die Schultern. »Es gibt natürlich eine Beschreibung. Er liegt in den Felsen.«
Ich schwieg. Dann schaute ich nach vorn, wo etwas Dunkles aufragte, Felsen.
Niemand sollte weitergehen, niemand…
Ich hakte noch einmal nach. »Gibt es ein Schlupfloch? Die Zwerge müssen den Weg doch auch nehmen.«
»Ja, es gibt schon einen.«
»Warum nicht gleich so?«
»Weil ich Angst habe, Mann. Verstehen Sie das nicht?« Fast hätte er geschrieen.
»Ganz ruhig«, flüsterte ich. »Kann es nicht sein, daß auch Trudi Angst gehabt hat? Wollen Sie Ihre Tochter im Stich lassen? Wollen Sie ihr nicht helfen?«
Er schüttelte den Kopf, er nickte, er hob die Schultern und schlug die Hände vor sein Gesicht. Die Furcht saß tief, und es war auch verständlich. Obwohl ich nicht zu den Bewohnern dieses Tals gehörte, fiel es mir nicht mehr schwer, mich in ihre Lage
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