0728 - Angst in den Alpen
winzigen Lichtflecken, der diese dichte Masse durchbrochen hätte. Sie glich einem Schwamm mit offenen Poren, die sich aber schlossen, als sie das fremde Wesen spürten. Trudi wurde von dieser Dunkelheit umfangen wie von einem Kleidungsstück. Sie hörte die zarten Stimmen, das ferne Singen, in das sich ein seltsam heller Glockenklang mischte.
In diesem Tunnel vermischten sich zwei Welten. Die reale schob sich hinein in die Traumwelt, die aber gleichzeitig wieder für den Kommenden eine Realität darstellte.
Trudi akzeptierte sie.
Sie mußte es einfach tun, denn nur so schaffte sie es, auch zu ihrem Ziel zu gelangen. Nur nicht wehren, sich selbst gedanklich nicht dagegen stemmen, dann würde alles zerstört werden.
Trudi konnte nicht sagen, wie lang dieser Tunnel war und wo er eigentlich hinführte. Es war auch nicht weiter schlimm, ans Ziel gelangte sie immer, und sie selbst drängte ihre eigene Existenz immer weiter zurück und überließ sich anderen Kräften.
Sie fühlte sich sehr wohl. Vor allen Dingen gab es da die Beschützer, die sie vor den Tücken des Lebens bewahrten. Diesen Eindruck hatte sie nur, wenn sie sich entschloß, diesen Weg zu gehen und einzutauchen in die fremde Welt.
Zwar berührten ihre Füße den Boden, dennoch kam sie sich vor, als würde sie darüber hinwegschweben.
Es war einfach alles anders, so unglaublich und nicht erklärbar.
Wundersam und wunderbar…
Die Dunkelheit umgab sie auch weiterhin. Trudi ging und merkte nicht, ob sie nun von der Stelle kam oder nicht. Ihr Gefühl für Raum und Zeit war verschwunden. Sie fühlte sich wie eine Feder.
Der Vergleich mit einer auf Wanderschaft gegangenen Seele kam ihr ebenfalls in den Sinn. So leicht konnte sich nur das zweite Ich eines Menschen fühlen, wenn es sich vom eigenen Körper gelöst hatte. Die Gesetze der Physik galten nicht mehr für sie. Eine andere Macht hatte sie aufgehoben, eine Macht die viel stärker war und ebenfalls schon seit Ewigkeiten bestand hatte.
Sie glitt weiter. Dabei blieb sie im Dunkeln, aber gedanklich öffneten sich ihr gewaltige Welten, in die sie bald hineintauchen würde, um ein Teil davon zu werden.
Die Nacht weicht dem Tag, die Dunkelheit zieht sich vor dem Licht zurück.
So geschah es auch hier.
Nicht mehr die wattige Finsternis umgab sie, sondern ein ungewöhnliches, bleiches, grünliches und silbriges Licht, das von einem Füllhorn ausgegossen wurde, um sich auf der Erde zu verteilen. Das Licht drängte die Kälte zurück, eine angenehme Wärme streichelte Trudis Haut. Trudi wußte, daß sie das Ziel erreicht hatte.
Erst jetzt öffnete sie die Augen.
Es war für sie ein Erwachen nach einem langen Schlaf. Wäre sie gefragt worden, was in den letzten Minuten geschehen war, sie hätte wohl kaum eine Antwort geben können.
Alles lag weit, sehr weit zurück. Das war Vergangenheit, vor ihr breitete sich die Gegenwart aus.
Sie befand sich nicht mehr in der Höhle, sondern inmitten einer geheimnisvollen Landschaft, die in einem ehrfürchtigen Schweigen erstarrt war und von einem ebenfalls grünlich schimmernden Auge des Mondes so fahl beleuchtet wurde.
Ein Wunder tat sich auf.
Weicher Rasen, wunderbar zu laufen, wie auf einem Teppich aus zartem Samt.
Die Augen der jungen Frau spiegelten den grünlichen Glanz des Mondes wider. Auch Trudi strahlte von innen, sie fühlte sich so anders, so leicht und gleichzeitig wunderschön.
In der Ferne sah sie die bewaldeten Kuppen der Berge. Wie breite Zacken stachen sie in die Höhe, als hätte jemand große Glasscherben aufrecht hingestellt.
Es war eine andere Welt, ein Gebiet, das von seltsamen Wesen bewohnt wurde.
Sie alle hatten die Frau gesehen, und sie alle verließen ihre Verstecke.
Frauen und Männer, kleine Menschen mit breiten Gesichtern und großen Köpfen. Mit alten Gesichter, obwohl sie so alt noch nicht sein konnte. Mit muskelbepackten Körpern, die dann wegen dieser Muskeln so unförmig aussahen.
Eine Frau trat von der Seite her auf Trudi zu. Ihr langes Haar glänzte wie Blei, in deren Strähnen rote Streifen schimmerten.
Trudi blieb stehen.
Die andere Person, die ein sackähnliches Gewand trug, nahm ihre Hand und küßte sie.
Die anderen Personen waren stehengeblieben. Sie behielten die respektvolle Entfernung auch bei, als wollten sie die heilige Handlung auf keinen Fall stören.
Trudi nahm den Handkuß entgegen. Sie spürte das Kribbeln in ihrem Körper, sie bewegte die Lippen und rang sich ein Lächeln ab. Dann strich sie der
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