0747 - Jessicas Rächer
Ich spürte den bitteren Geschmack von Galle auf der Zunge.
Ruhelos durchwanderte ich den Raum, wobei ich darauf achtete, die Trittgeräusche nicht zu laut werden zu lassen, denn irgendwie störten sie mich selbst.
Ich schaute mir die Puppen an. Keine bewegte sich.
Sie saßen auch nicht in einer Reihe, sondern verteilten sich terrassenartig. Sie alle hatten mehr oder minder starre Gesichter, obwohl ihre Schöpferin sie mit verschiedenen Ausdrücken geschaffen hatte.
So sah ich Puppen, die verkniffen lächelten, andere wiederum schauten starr, beinahe böse, und wieder andere hatten die Gesichter verzogen, als würden sie Schmerzen spüren.
Jessica hatte die gesamte normale Welt in ihre Puppen hineingebracht, daran gab es nichts zu rütteln. Sie zeigten Gefühle, sie weinten, sie lachten, sie freuten sich oder waren zornig.
Je länger ich mir die Puppen anschaute, umso stärker wurde ich verunsichert. Sie kamen mir plötzlich nicht mehr so starr und unbeweglich vor. Bei manchen Gesichtern hatte ich den Eindruck, als hätten sie sich verändert, aber das stimmte nicht. Es war eine Folge meiner doch überreizten Nerven.
Zudem war das Licht nicht besonders. Zwar umfing mich keine Düsternis, aber die Wolken über dem schrägen Fensterdach ließen kaum einen Sonnenstrahl durch.
Ich war als menschliches Wesen allein in dieser Wohnung. Keine Puppe lebte, und trotzdem spürte ich die Gefahr, die in dieser Umgebung lauerte.
Sie war nicht zu erkennen, nur zu spüren, auch kein kalter Hauch.
Sie existierte einfach, das sagte mir mein Gefühl. In dieser Wohnung würde es zu einer Entscheidung kommen.
Die Puppe mit dem Zylinder hatte ich nicht gesehen. Sie machte auch noch jetzt auf mich den Eindruck eines bösen Totengräbers, der urplötzlich erschien, um sich sein Opfer zu holen.
Ich stand auf seiner Liste ganz oben.
Aber war er tatsächlich da oder befand er sich noch auf dem Weg zu seinem neuen, alten Ziel? Es war an sich nicht seine Art, einem Gegner einen Vorsprung zu geben, doch bei ihm rechnete ich mit allem. So wie Jessica eine Falle aufgebaut hatte, so würde auch er vorgehen. Mit nahezu teuflischer Präzision.
Ich war noch mal in Jessicas Schlafzimmer gegangen und hatte mich in ihrem begehbaren Kleiderschrank umgesehen, ohne dort die Puppe zu entdecken.
Langsam schritt ich wieder zurück. Das Atelier kam mir noch düsterer vor. Es glich einer unheimlichen Kulisse, die mit grauen Tüchern verhängt worden war.
Etwas klatschte über mir auf das Glas. Ich schaute hoch und sah einen breiten weißen Fleck. Der Gruß einer Taube.
Um meinen Mund zuckte ein Lächeln. Der Designerstuhl war mir zu unbequem, deshalb holte ich mir einen kleinen Sessel heran, in den ich mich setzte. Seine Sitzfläche war schalenförmig und das Untergestell bestand aus leichtem Metall. Der Stoff war sonnenblumengelb und bildete einen Farbklecks inmitten der Düsternis.
Ich wartete.
Mein Kreuz hatte ich in die Seitentasche gesteckt, weil ich so schnell wie möglich an diese Waffe herankommen wollte, wenn es sich als nötig erwies.
Meine Gedanken wanderten wieder zurück nach Pontresina und in den Keller des Hotels. Dort war es zum großen Finale gekommen.
Jessica hatte sich in ihrer wahren Gestalt gezeigt!
Sie war ein Monster gewesen. Mit schmalen, schlitzartigen, eisblauen Augen, in denen eine dämonische Kraft leuchtete.
Das Bild würde ich niemals vergessen, noch immer spürte ich den kalten Schauder.
Jessica würde nicht mehr zurückkehren. Aber sie hatte einen gefährlichen Diener, die von einer magischen Kraft erfüllte Puppe.
Wie hatte sie als Tote dieses künstliche Wesen leiten können? Bisher war es noch ein Rätsel für mich. Es stand nur fest, dass es eine Verbindung zwischen den beiden gab, wahrscheinlich auf mentaler Ebene. Möglicherweise leitete Jessica aus dem Jenseits diese Person in ihre gewünschte Richtung.
Warten, nur warten…
Ich schaute auf die Uhr.
Etwa eine Stunde war seit meiner Abfahrt bei Sarah Goldwyn vergangen. Es hatte sich nichts getan, und trotzdem war ich der Meinung, dass sich die Puppe in der Nähe befand und längst auf mich gewartet hatte. Ich saß sehr günstig, so konnte ich die übrigen Puppen im Auge behalten. Wenn ich zu lange auf sie starrte, dann verschwammen sie und kamen mir vor, als würden sie sich bewegen.
Aber das war nicht der Fall. Ich bildete mir nur etwas ein.
Bis ich das Geräusch hörte. Und dieses Knacken – in der Stille klang es doppelt laut – hatte ich
Weitere Kostenlose Bücher