0752 - Lauras Leichenhemd
zittern. Der schreckliche Verdacht festigte sich immer mehr. Über die Schultern und auch über ihren Rücken rann ein kalter Schauer. Die Lippen zitterten, der Druck hinter den Augen verstärkte sich noch mehr, wenn sie Luft holte. Sie ahnte das Schreckliche, ihr Verdacht wurde dann zur Gewissheit, als es Laura geschafft hatte, die Treppe hinter sich zu lassen.
Vor der ersten Stufe blieb sie stehen und war so ziemlich nahe an ihre Großmutter herangekommen.
Antonella starrte sie an.
Ja, Laura hatte sich umgezogen. Sie trug nicht mehr ihre normale Kleidung. Etwas hing breit und bis knapp über die Hüfte reichend an ihrem Körper herab.
Sie hatte es gefunden.
Es war das Hemd, das Leichenhemd!
Antonella hatte den Eindruck, ihre Kehle wäre geschlossen worden. Ein würgender Laut drang über ihre beinahe geschlossenen Lippen. Sie konnte nicht mehr stehen bleiben, ging zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Tür.
Der Druck war nicht groß, dennoch schwang die Tür nach innen, und auch Antonella konnte den Wohnraum betreten. Sie ging rückwärts über die Schwelle.
Laura folgte ihr Noch, konnte Antonella ihre Enkelin nicht genau erkennen. Sie war die erste, die den Schein des Leselichts erreichte und damit auch ihren Schaukelstuhl. Sie fiel hinein.
Der Stuhl schwang durch das Gewicht vor und zurück. Sie hörte das Knarren des Korbs und verglich das Geräusch mit Knochen, die in einer alten Mühle gemahlen wurden.
Laura stand in der Tür.
Viel breiter als sonst sah sie aus. Es lag einzig und allein am Schnitt des Leichenhemds, der die Schulter stärker betonte. Wie ein Rechteck fiel es nach unten, und Antonella war auch in der Lage, das dunkle Muster auf der Vorderseite des Stoffs zu erkennen. Es hatte sich aus ziemlich dicken Fäden gebildet, die mal senkrecht, mal waagerecht liefen und sich irgendwo auch trafen.
Antonella wusste Bescheid. Es war so verdammt endgültig, es gab kein Zurück mehr, und sie wusste auch, was ihr bevorstand.
Laura betrat den Raum.
Sie schlich hinein, ihre Füße verursachten kaum einen Laut, als sie über den Teppich glitt. Antonella warf einen Blick in ihr Gesicht. Es hatte sich auf eine bestimmte Art und Weise verändert. Nicht dass es direkt schrecklich ausgesehen hätte, es war nur erwachsener geworden und passte nicht zu Laura. Besonders fielen darin die Augen auf.
Sie glichen zwei kleinen matt schimmernden Teichen, die in die Höhlen gepinselt waren.
Antonella zitterte.
Der Tod schwebte als dritter Gast unsichtbar zwischen den Wänden und hielt seine Klauen bereits ausgestreckt. Noch durchtastete er die Luft auf der Suche nach einem Ziel.
Über Antonella blieb er schweben.
Sie verkrampfte sich, sie wollte mit Laura sprechen, aber sie roch nur das alte Blut.
Dann war Laura bei ihr.
Das Licht fiel gegen sie.
Zuerst wie ein matter goldgelb schimmernder Vorhang, der sehr bald von dem Rot des Leichenhemds aufgesaugt wurde. Antonella sah nur das Hemd, roch das Blut, sah auch die Streifen und würgte den Namen ihrer Enkelin hervor.
Laura senkte den Kopf.
Dann lächelte sie.
Wissend und tödlich…
Antonella zuckte zusammen. Sie umkrampfte mit beiden Händen die Lehnen des Stuhls. Noch einmal riss sie sich zusammen. Sie suchte nach Worten und brachte sie mühsam über die Lippen.
»Nein, Laura, nein… du darfst es nicht. Zieh es aus. Weg damit, es ist nicht gut, es darf nicht sein. Es tötet, es …«
Laura beugte sich vor.
»Hallo, Großmutter, ich mag dich.« Dann griff sie zu, umarmte Antonella, als wollte sie ihr damit einen Liebesbeweis geben.
Die alte Frau spürte genau, dass es das Ende war. Sie zuckte unter der Umarmung. Der Stuhl bewegte sich heftig. Er schaukelte hörbar hin und her, er geriet in regelrechte Zuckungen, denn im selben Rhythmus bewegte sich auch der Körper der Frau.
Antonella spürte den Tod wie eine Woge und eine Klammer zugleich. Er holte sich, was er brauchte. Kein Leben war ihm heilig. In ihrem Körper raste irgend etwas. Im Innern schien etwas zu zerreißen. Die Angst schleuderte gewaltige Wellen hoch. Sie hörte böse Stimmen, dazwischen ein hartes Lachen, und plötzlich schmeckte sie etwas in der Kehle, das nur Blut sein konnte.
So widerlich süß und metallisch.
Blut aus ihrem Innern.
Aus Wunden tief in ihrem Körper, die gerissen worden waren. Es jagte in ihr hoch, es füllte ihren Mund aus, und sie erstickte daran.
Der Stuhl schwang noch immer.
Nur nicht mehr so heftig wie zuvor.
Als Laura ihre Großmutter losließ,
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