0752 - Lauras Leichenhemd
ihr nicht gelungen. Deshalb war sie aufgestanden und saß im Schaukelstuhl. Sie hatte ihn so gedreht, dass sie aus dem Fenster schauen konnte.
Dahinter war es dunkel. Die nächste Straßenlaterne stand zu weit entfernt, als dass ihr Licht einen Schleier gegen die Scheibe hätte werfen können. So ballte sich die Finsternis vor dem Fenster zusammen und vermischte sich auch mit den düsteren Wolken, die ihrer Meinung nach sehr tief gesunken waren.
Es war zudem wärmer geworden. Keine angenehme Wärme, mehr eine widerliche. Der Mai hatte bisher nicht viele schöne Tage gebracht, das würde sich nun ändern, doch der Temperaturanstieg war in diesem Fall ein gewaltiger Schwall, der aus dem Süden kam und eine subtropische Luft auf London zuschob.
Antonella war die Wärme aus Italien gewohnt, damals aber war sie noch jünger gewesen. Zudem war ihr die Schwüle verhasst, und wer seine Last mit dem Kreislauf oder mit dem Herzen hatte, würde ebenfalls Ärger bekommen.
Sie stöhnte auf.
Es war zu warm im Raum. Die Heizung war noch nicht abgestellt worden. Auch sie schickte die Hitze in die vier Wände hinein. Ein einsames Leselicht brannte neben dem Schaukelstuhl, der bei jeder Bewegung anfing zu knarren.
Wie meine alten Knochen, dachte Antonella, die immer ein Gefühl der Spannung darin hatte.
Das bedrückende Gefühl wollte nicht weichen. Für sie war es so etwas wie eine Vorahnung auf die kommenden Stunden. Sie überlegte, ob sie vielleicht einen Fehler begangen hatte, aber sie kam nicht darauf. Alles war normal gelaufen, obwohl es trotzdem im Haus etwas gab, über das sie nicht gern sprach.
Es war sehr schlimm, sie hätte es auch in Italien lassen sollen, aber sie hatte es mitgenommen, und sie nahm sich vor, bald ihren Sohn darin einzuweihen.
Er musste alles darüber wissen, bevor sie starb. So hatte man es in der Familie immer gehalten, denn dieser Gegenstand durfte auf keinen Fall in die falschen Hände geraten, auch dann nicht, wenn diese zur Familie gehörten.
Immer das älteste Mitglied musste ins Vertrauen gezogen werden, und ihr Sohn würde seiner Mutter vertrauen und diesen Gegenstand auch weiterhin aufbewahren.
Einmal hatte jemand versucht, ihn zu verbrennen. Antonella kannte es nur aus Erzählungen. Wenn diese aber stimmten, war es schlimm gewesen. Da hatte sich das Feuer dann gegen denjenigen gewandt, der das Kleid verbrennen wollte. Die Flammen hatten ihn verschlungen. Seit dieser Zeit war es nicht mehr versucht worden.
Antonella Saracelli stand auf: Mit müden Schritten ging sie zum Fenster und öffnete es.
Es strömte ihr keine kühle Luft mehr entgegen, sondern eine schon stickige Wärme. Beim ersten Augenblick wurde ihr die Luft geraubt, dann wurde ihr schwindlig. Ihr Herz klopfte schneller, als sie ihren Kopf vorstreckte.
Die schmale Straße war leer.
Ein einsames Licht brannte links von ihr. Sie wohnten in einer guten Gegend mit alten Häusern und hatten sich das eigene Haus auch nur leisten können, weil ein hoher Gewinn aus einem Bingospiel in ihre Taschen geflossen war.
Auf der Straße war es ruhig. Keine Schritte, keine Stimmen. In der Luft hing noch ein betäubender Blütengeruch. Jasmin und Flieder vereinigten sich da. Beide rochen nach Fäulnis.
Die tiefe Nacht schwieg.
Keine Lebewesen huschten vorbei. Einmal nur sah sie eine dunkle Katze, die so stark mit ihrer Umgebung verschmolz, dass nur die türkisfarbenen Augen zu sehen waren.
Sie schloss das Fenster wieder. Antonella drehte sich um. Sie war zu schnell gewesen: Schwindel hielt sie umklammert, und sie musste sich abstützen.
Mit langsamen Schritten ging sie weiter. Sollte sie sich ebenfalls hinlegen?
Es hätte keinen Sinn gehabt. Sie konnte nicht schlafen, und das bedrückende Gefühl verstärkte sich. Die Ahnung nahm zu. Sie war wie ein böses Gespinst, das sich um ihren Körper legte und sich dabei immer stärker zusammendrückte.
Sie Wollte etwas trinken.
Auf dem kleinen Tisch stand noch der Tee. Er schimmerte in der Tasse wie ein blasses, rundes Auge. Er war längst kalt geworden, sie schlürfte ihn trotzdem.
Ein wenig erfrischte er schon, und sie leerte die Tasse bis zum Grund. Dann stellte sie sie zur Seite.
Es wurde wieder still.
Und trotzdem gefiel ihr die Stille nicht. Sie war anders, sie war einfach nicht normal. So bedrückend wie ein Panzer, unheimlich, ein heimliches Tier, das von diesem Haus und deren Bewohnern Besitz ergriffen hatte.
Antonella bekam eine Gänsehaut. Sie verzog ihr Gesicht, und das
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