0756 - Tod über der Tunguska
Lena.
Vor wenigen Jahren, Anno 1904, hatte das Russische Zarenreich einen Krieg gegen Japan geführt und ihn auf der ganzen Linie verloren. Japanische Kanonen und Torpedos hatten die russische Fernost-Flotte auf den Meeresgrund geschickt, und die Armee des kleinen Inselstaates hielt sich in der Mandschurei auf. Von dort aus war es zwar schwierig, aber nicht unmöglich, in Sibirien einzufallen…
Aber der Schamane machte eine unwirsche Handbewegung.
»Wenn es nur die Japaner wären! Aber diese neue Bedrohung ist… übermenschlich. Ich habe sie in einem Göttertraum gesehen.«
Lena wusste, dass die Schamanen ihre Trancezustände als Götterträume bezeichneten. Von solchen Dingen hörte man, wenn man längere Zeit in Sibirien lebte.
»Was… was ist es, o Thaagu?«
Der Schamane kniff seine schmalen Lippen zusammen. Er bereute es offenbar schon, gegenüber Lena überhaupt eine Andeutung gemacht zu haben. Jedenfalls entnahm die Zobeljägerin das aus seinen nun folgenden Worten.
»Frage mich nicht, Frau in Männerkleidern. Was bald geschehen wird, entzieht sich unserer Macht. Das ist alles, was ich dir sagen kann. Keine Kanone, kein Torpedo, keine Bombe vermag die tödliche Gefahr aufzuhalten. Nur die Götter können uns helfen. Sie allein sind mächtig genug, um das Inferno zu verhindern. Mein Ritual, bei dem du mich gestört hast, dient dazu, unseren Stammesgott Bil gnädig zu stimmen.« Der Schamane machte eine kurze Pause. »Er und die Gemeinschaft aller Geister könnten uns retten. Falls nicht, dann sind wir alle verloren.«
Ein eiskalter Schauer lief Lena über den Rücken. Sie hatte schon seit Tagen eine unbestimmte Beklemmung verspürt. Die Atmosphäre sog ihre Lebenskraft auf und ließ jede Hoffnung als lächerliches Blendwerk erscheinen. Eine ungreifbare Vorankündigung des absoluten Grauens. Diese Stimmung war wie ein Damoklesschwert, das als unsichtbare Bedrohung über Lenas Kopf hing.
So, als ob Pjotr, ihr Mann, sie gefunden hätte…
Entschlossen packte Lena ihr Gewehr. Wenn Pjotr wirklich hierher kam, dann würde sie ihm eiskalt ein paar Kugeln auf den Pelz brennen. Die Ordnungsmacht war weit weg, wenn man mal von den Wächtern des Straflagers absah. Doch die hatten genug damit zu tun, die armen Teufel zu quälen, die dort interniert waren.
Nein, Lena fürchtete sich nicht vor ihrem Mann. Nicht mehr. Aber das, worüber der Schamane Thaagu gesprochen hatte, bereitete ihr echtes Kopfzerbrechen.
Denn das Gefühl drohenden Unheils war allgegenwärtig. Überall entlang der Steinigen Tunguska konnte man es spüren. Auch die Tiere der Taiga witterten den Tod.
Als feine Dame in St. Petersburg hätte Lena Kuslowa nichts von solchen Änderungen in der Welt mitbekommen. In rauschenden Ballnächten und bei gesitteten Damenkränzchen empfand man solche Dinge nicht. Aber hier draußen, in der menschenleeren Taiga, fühlte sich Lena als ein winziges Teil der Natur.
Und die Natur fürchtete sich sehr vor der bevorstehenden Katastrophe.
Lena hoffte, dass der tungusische Stammesgott Bil wirklich rettend eingreif en konnte…
***
Im Garten der Götter
Bil war verzweifelt.
Der Gott ähnelte einem Bären. Jedenfalls dann, wenn er sich den Menschen in einer für sie erfassbaren Gestalt zeigen wollte. Deshalb war der Bär auch das Symboltier des tungusischen Stammesgottes. Doch im Gegensatz zu dem Pelztier verfügte Bil noch über zwei große, geschwungene Hörner, die von der Form her an die Stoßzähne eines Mammuts erinnerten und aus seiner mächtigen, breiten Stirn wuchsen.
Hier in seiner ganz eigenen Sphäre, die der Garten der Götter genannt wurde, konnte Bil auf eine Gestalt verzichten, die für menschliche Sinne erfahrbar war. Wer sich im Garten der Götter aufhielt, war selbst ein Gott. Oder ein hoher Dämon…
Der Garten der Götter war eine Paralleldimension zu unendlich vielen anderen Daseinszuständen, die im Universum existierten. Da gab es beispielsweise Khergu, die von Geistern bewohnte Unterwelt. Und eben die Menschenwelt, aus der Bil so viele Hilferufe entgegenschallten.
Natürlich entging es dem Stammesgott der Tungusen nicht, dass er von verschiedenen Schamanen des kleinen mongolischen Volkes um Beistand angefleht wurde.
Diese Zauberer waren es schließlich, durch die Bil den Menschen seinen Willen verkündete. Wie die anderen Naturgötter Sibiriens war auch Bil sterblich. Er lebte sozusagen von der geistigen Energie der Menschen, die zu ihm beteten. So gesehen hätte er momentan
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