0756 - Tod über der Tunguska
Moment genug, und er zog sich zurück. Vermutlich, um neue finstere Pläne gegen Bil auszuhecken.
Das war dem tungusischen Stammesgott in diesem Moment gleichgültig. Rasa war ein Gegner, mit dem er notfalls fertig werden konnte. Das hatte er schon oft genug bewiesen.
Doch bei jener neuen Bedrohung lagen die Dinge anders. Die Menschen spürten instinktiv, dass sie selbst nichts gegen den unheimlichen Feind unternehmen konnten. Also flehten sie ihn, Bil, um Beistand an.
Doch Bil fühlte sich hilflos und schwach. Rasa hatte mit seinen hinterhältigen Reden sogar Recht gehabt. Es war überhaupt kein Problem für Bil und die anderen Götter, dem nahenden Inferno einfach auszuweichen.
Aber das kam für Bil nicht in Frage. Die Menschen hofften auf ihn, und er durfte diese Hoffnungen nicht enttäuschen.
Um keinen Preis.
***
Château Montagne, Loire, Frankreich, Gegenwart
Fooly ließ einen Drachen steigen.
Dabei handelte es sich allerdings um einen Papierdrachen. Fooly selbst hingegen war ein richtiger, magischer, wenn auch kleiner Drache aus Fleisch und Blut. Zamorras 1,20 m kleiner Hausgenosse mit der grünlichen Haut und den Hornplatten auf dem Rücken hatte den Papierdrachen selbst gebastelt. Dabei musste er natürlich aufpassen, die ausfahrbaren Krallen an seinen vierfingrigen Händen auch wirklich in Ruhestellung zu lassen, denn sonst bestand die Gefahr, dass er das Papier gleich wieder zerfetzte. Und die Wahrscheinlichkeit dafür war groß. Nicht umsonst trug Fooly auf Grund seiner Tollpatschigkeit eben diesen und keinen anderen Namen.
Wenn Drachen Papierdrachen steigen lassen, haben sie natürlich dazu ganz andere Möglichkeiten als die Menschen. Daher hatte sich Fooly mit seinen kurzen Stummelflügeln in die Lüfte geschwungen. Er flog über dem parkähnlichen Garten von Château Montagne hin und her. Seinen selbst gebastelten Papierdrachen zog er an einer Schnur hinter sich her.
Da näherte sich ein Mercedes Zamorras Anwesen. Fooly beschloss, den Fahrer des Wagens mit einer improvisierten Kunstflugshow zu beeindrucken.
Der beleibte Jungdrache drehte sich in der Luft und schob sich gut sichtbar in das Blickfeld des Mannes am Lenkrad. Dieser schien an fliegende Drachen gewöhnt zu sein. Jedenfalls bremste er nicht und änderte auch nicht das Tempo. Fooly vollführte einen Looping. Allerdings hatte er dabei nicht bedacht, dass er ja seinen selbst gebastelten Papierdrachen hinter sich herzog. Das Spielzeug wurde zerfetzt.
Das fliegende Material ist auch nicht mehr das, was es mal war, dachte der Jungdrache altklug, als er die zerrissenen Le-Monde-Seiten erblickte. Der Verlust des selbst gebastelten Flugobjekts schmerzte ihn nicht besonders. Er hatte es ohnehin schon als Zumutung empfunden, dass man diese Spielzeuge überhaupt als Drachen bezeichnen durfte…
Der Mercedes hielt nun vor dem Haupteingang des Châteaus. Die Fahrertür öffnete sich, und ein Zwei-Zentner-Mann in einem braunen Cordanzug kletterte schnaufend aus dem Auto.
Fooly beschrieb in der Luft eine weite Ellipse und landete dann direkt zu Füßen des Besuchers.
»Du musst Fooly sein!«, rief der Mann lachend. Er sprach Französisch mit einem leichten russischen Akzent. »Brüderchen Zamorra hat mir von dir erzählt!«
Fooly unterdrückte ein paar Flämmchen, die aus seinen Nüstern schlagen wollten. Stattdessen richtete er sich zu den vollen 1,20 m seiner Jungdrachengröße auf.
»MacFool, genauer gesagt.« Seine Drachenschnauze verzog sich zu einem gewinnenden Lächeln. Offenbar hatte er den Besucher sofort in sein Herz geschlossen. »Aber du darfst natürlich Fooly zu mir sagen!«
»Danke, Fooly. Ich muss dringend Professor Zamorra sprechen.«
»Der Chef hat viel zu tun«, erklärte Fooly großspurig. »Aber ich werde sehen, was ich tun kann. Wenn ich meinen Einfluss geltend mache…«
In diesem Moment trat Butler William aus dem Gebäude. Der britische Butler, der wie der idealtypische Vertreter seiner Zunft wirkte, warf seinem Adoptivtier einen warnend-misstrauischen Blick zu.
»Guten Morgen, Sir. Ich hoffe, der Drache hat Sie nicht in irgendeiner Form belästigt.«
»Keineswegs. Ich bin Boris Iljitsch Saranow, Parapsychologe aus Russland. Und ich möchte dringend meinen Kollegen Professor Zamorra sprechen.«
Mit diesen Worten fischte Saranow eine seiner Visitenkarten aus dem Jackett. Er wusste, dass es Menschen gab, die einen großen Wert auf die kleinen rechteckigen Kärtchen legten. Besonders Butler waren meist ganz
Weitere Kostenlose Bücher