0756 - Tod über der Tunguska
wie ein einziges Straflager vor Die Masse des Volkes wurde von der Zarenfamilie und ihren Schergen am Boden gehalten, und genau deshalb hatten es Petrow und seinesgleichen auf die mächtigen Adelsfamilien abgesehen.
Propaganda der Tat nannte Michail Bakunin [2] die Methode, durch Bombenwürfe auf Großfürsten das Volk zur Rebellion aufzustacheln. Die Revolution von 1904 war zwar gescheitert, doch die Anarchisten machten unverdrossen mit ihren Anschlägen weiter. Jedenfalls jene, die sich nicht erwischen ließen. So wie Oleg Petrow es leider getan hafte…
»Du sprichst wohl nicht mit jedem?«
Die trügerisch-sanfte Stimme des Lagerkommandanten riss den jungen Rebellen aus seinen Grübeleien. Sein einziger Gedanke galt der Flucht. Er musste zurück zu seinen Genossen nach St. Petersburg, um den Kampf weiterzuführen. Petrow träumte von dem Tag, an dem es keine Macht mehr gab, mit der Menschen andere Menschen unterdrücken konnten.
Aber bis dahin würden er und seine Mitkämpfer durch Ströme von Blut waten müssen… Davon war Petrow überzeugt.
»Du wirst doch wohl nicht am Ende stumm sein, Söhnchen? Aber wenn du auch nicht sprechen kannst, so kannst du doch hervorragend spucken… jedenfalls vorerst.« In Leutnant Baldews Pupillen erschien ein irres Glitzern. »Bringt die kleinen Ketten!«
Ein Soldat rannte zu einer der Blockhütten, aus denen das Straflager 252 bestand. Gleich darauf kehrte er mit Metallketten zurück. Sie waren klein, noch nicht einmal so dick wie Petrows kleiner Finger.
Der Anarchist stutzte. Was hatte dieser Zaren-Scherge mit den Ketten vor?
Er sollte es sogleich erfahren.
Der Soldat legte die Ketten auf den steinigen Boden, bis ungefähr ein Quadratmeter von ihnen bedeckt war.
»Und jetzt knie nieder!«
Natürlich gehorchte Petrow nicht. Aber da hatte ihm einer der Männer aus der Begleittruppe schon in die Kniekehlen getreten. Der junge Anarchist stürzte mit den Knien auf die kleinen Ketten.
Es tat gemein weh. Vor allem deshalb, weil er sich nicht erheben durfte. Sobald er aufstehen wollte, bekam er einen Kolbenhieb ab. Also musste Oleg Petrow auf den kleinen Ketten kauern, die seine Kniescheiben marterten.
»Auf den Knien gefallt ihr Anarchisten mir schon viel besser!«, höhnte Leutnant Baldew. Dann wandte er sich an einen Unteroffizier. »Dieser Mann bekommt heute nichts zu trinken. Er wird bis Sonnenuntergang dort auf den Ketten knien. Ich bin gespannt, ob er danach immer noch so schön spucken kann!«
»Jawohl, Herr Kommandant!«
Die anderen Gefangenen wurden nun wie Vieh in ihre Unterkünfte getrieben. Zwei Soldaten blieben zur Bewachung Petrows zurück. Sobald er versuchte, eines seiner Knie zu entlasten, bekam er einen Kolbenhieb.
Mit jedem Schlag wuchs Petrows Hass auf die Zaren-Schergen im Allgemeinen und auf Leutnant Arkadi Baldew im Besonderen. Und die Knie des Gefangenen brannten noch heißer als sein Zorn.
Zäh verstrichen die Stunden. Die Wächter wurden abgelöst, aber Petrow musste weiterknien. Er bekam nichts zu essen, nichts zu trinken. Obwohl es nicht besonders warm war, trieb ihm der andauernde Schmerz den Schweiß auf die Stirn.
Am Nachmittag klebte seine Zunge förmlich am Gaumen. Trotzdem bereute er nicht, dem Leutnant vor die Füße gespuckt zu haben. Im Gegenteil. Der junge Anarchist bedauerte nur, dass er die schönen glänzenden Schaftstiefel nicht getroffen hatte.
Wenn die Revolution gesiegt hat, dachte Petrow hasserfüllt, dann lasse ich diese Ratte seine Stiefel fressen…
Als die Abenddämmerung sich über die dicht mit Lärchen und sibirischen Fichten bewaldeten Hügel der Tunguska-Region senkte, kehrte Leutnant Baldew auf den Paradeplatz zurück. Er grinste schäbig.
»Nun, mein Söhnchen«, sagte er, »hat es dir gefallen, der guten Erde von Mütterchen Russland so nahe zu sein? Gewiss, hier in Sibirien ist das Erdreich sehr hart, weil es das ganze Jahr lang gefroren ist. Aber es ist doch unsere russische Heimaterde, und die Liebe zur Heimat werde ich euch gottlosen Anarchisten auch noch beibringen!«
Petrow verzog den Mund, um erneut auszuspucken. Doch es war, als ob sein Mund voller Staub wäre. Er konnte auch nicht richtig sprechen. Nur ein schauriges Krächzen kam aus seiner Kehle.
»Schafft ihn mir aus den Augen!« Der Offizier wandte sich nun an die Wächter. »Ab morgen wird er mit den anderen Läusen im Steinbruch arbeiten!«
Endlich durfte Petrow aufstehen. Doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Obwohl die
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