0767 - Zeit der Wachsleichen
lebte auch, und wer tot war, der war auch tot.
Jetzt stand diese Gestalt dort!
Der Pfarrer rührte sich nicht, stand da mit offenem Mund. Er staunte nur, und er merkte dabei, wie beim Anblick der Gestalt das Entsetzen in den Körper stieg und allmählich höher kroch in Richtung Kehle, als wollte es ihm dort den Atem rauben.
Er hörte sich selbst schnaufen. Die Luft drang aus seinen Nasenlöchern und floß über die Oberlippe hinweg in Richtung Kinn. Seine Hände waren so feucht geworden, als hätte er sie gewaschen und danach nicht abgetrocknet.
Das Gesicht hatte sich so weit der Scheibe genähert, daß es das Glas leicht berührte und aus diesem Grunde ein wenig deformiert wirkte.
Es war das Gesicht eines Menschen und trotzdem eine grauenhafte Fratze.
So bleich, so wächsern und so anders. Der Mund wirkte, als hätte man die Haut dort einfach aufgerissen. Die Nase sah verquollen aus.. Sie wuchs schief aus dem Gesicht. Die Augen bewegten sich nicht. Sie lagen starr in den Höhlen, als wären sie hineingedrückt worden wie etwas Fremdes.
Einen solchen Menschen hatte der Pfarrer noch nie in seinem Leben gesehen, erst recht nicht in Grainau, wo doch alles seine heilige Ordnung hatte.
Das war vorbei. Der Pfarrer ahnte, daß andere Zeiten angebrochen waren. Das unheimliche Gefühl, das ihn die ganze Zeit über gequält hatte, war nicht grundlos über ihn gekommen.
Der Pfarrer überlegte, wie er vorgehen sollte. Noch befanden sich die Scheibe und die Mauer zwischen ihm und dem Unheimlichen. Er konnte sich allerdings vorstellen, daß dies für die Gestalt kein Hindernis war.
Er blieb sitzen.
Der erste Schreck war zum Glück verflogen. Allmählich kam er wieder zu sich selbst und schaffte es auch, tief durchzuatmen. Er pumpte seine Lungen voll, aber die Luft war verbraucht und abgestanden. Er hätte lieber frischere eingeatmet. Dazu hätte er nach draußen gemußt, und das wiederum traute er sich nicht, weil er sich vorstellen konnte, daß der Unbekannte auf so etwas lauerte.
Er bewegte nur den Kopf. Es sah so aus, als wollte er ihn schütteln und dem Geistlichen klarmachen, daß er keine Chance hatte. Dabei durchfloß die Gestalt nur ein Zittern, bevor sie dann den Mund weit öffnete und sich hinter der Scheibe Kaubewegungen abzeichneten. Wie bei einem Menschen, der sein Hungergefühl so zum Ausdruck bringen wollte.
Pfarrer Prantl rutschte zur Seite. Das harte Holz der Eckbank war dort, wo er gesessen hatte, schweißfeucht geworden, und so blieben auf dem hellen Holz Flecken zurück.
Der Fremde bewegte sich nicht. Er ließ den Pfarrer in Ruhe und blieb auch dann starr, als dieser die Bank verlassen hatte und sich langsam aufrichtete.
Prantl umklammerte sein Kreuz. Er wußte noch nicht genau, was er tun sollte, aber er spielte mit dem Gedanken, bei der Polizei anzurufen. Das schwarze Telefon stand in seiner Nähe.
Er blieb trotzdem stehen.
Mit seiner rechten Hand tastete er nach dem Holzkreuz. Umklammerte es so fest, als wollte er es zerbrechen. Es sollte ihm die nötige Sicherheit geben und auch Vertrauen einflößen, um gegen den unheimlichen Besucher bestehen zu können.
Der ließ sich Zeit. Aber er blieb nicht mehr nur stehen. Er bewegte sich auch. Deutlich konnte der Pfarrer erkennen, wie er seine Arme hob und die Hände flach gegen die Scheibe preßte, als wollte er sie eindrücken. Wenn er das tat, würden ihm die Splitter die Hände zerschneiden, das stand für Prantl fest.
Er ging.
Nein, seine Bewegungen konnte man nicht als Gehen bezeichnen. Er schob sich weiter und wußte nicht, wohin er seinen Blick richten sollte. Zum Fenster, wo der Unheimliche stand, oder zum Telefon, das er so dringend benötigte.
Der Apparat stand auf einem dunkelbraunen Wandregal, inmitten von Büchern. Es waren dorthin nur wenige Schritte, aber die Furcht hockte wie ein gewaltiger Klumpen in seinem Innern.
Der Pfarrer zitterte. Er hatte das Kreuz losgelassen, weil er beide Hände frei haben wollte. Seine Augen waren ebenso starr wie die des unheimlichen Fremden. Schon jetzt fühlte er sich wie nie zuvor in seinem Leben. Umklammert, gefangen von einer Aura, die nach Tod und Friedhof roch.
Er legte die rechte Hand auf den Hörer.
Dieser Kontakt gab ihm wieder ein wenig Mut. Er brauchte den Hörer nur anzuheben, die Nummer zu wählen und…
Er hob ihn auch an.
Die Nummer wählte er trotzdem nicht.
Denn plötzlich geschah das, was er schon seit einiger Zeit befürchtet hatte.
Der Fremde drückte mit beiden Händen
Weitere Kostenlose Bücher