0767 - Zeit der Wachsleichen
spielte mit dem Wasser und trieb die Wellen klatschend an das Seeufer heran. Die Blätter der Laubbäume raschelten sanft, und es war auch für mich schwer vorstellbar, daß diese friedliche Urlaubsstimmung von einem Killer gestört wurde.
Daß ich den Weg nach Grainau nicht zu Fuß gehen würde, lag auf der Hand.
Mein Leihwagen stand auf dem Parkplatz, wo nur wenige Laternen leuchteten, so daß die meisten der dort abgestellten Wagen im Dunkeln parkten. Auch meiner. Ich näherte mich dem BMW. Hinter ihm stand jemand.
Die Gestalt winkte und sprach mich an. »Ich schätze, wir sollten zunächst einmal einiges vergessen, John, und rational handeln.«
Mein Mund trocknete aus. Ich kannte die Stimme, ich kannte auch die Frau.
Es war die Freundin der Mörderin Audrey Houston.
Sally Vincaro!
***
Die Scherben lagen in unterschiedlich großen Stücken auf dem Boden. Manche sahen aus wie spitze Messerklingen, andere erinnerten an Dreiecke, die jemand weggeworfen hatte. Zum Teil waren sie so stark zerbrochen, daß sie nur mehr Krümel bildeten, und einige von ihnen waren durch die Wucht bis hin zu Pfarrer Prantl gerutscht.
Der Geistliche war völlig von der Rolle. Er wußte nicht, wie er sich noch verhalten sollte. Er konnte sich auch noch immer nicht erklären, wer dieser unheimliche Besucher war und weshalb seine Hände beim Einschlagen des Fensters nicht geblutet hatten, obwohl die Scherben mit ihren scharfen Kanten seine Haut zerrissen hatten.
Der Zombie wartete. Er bewegte dabei seinen Kopf und durchforstete das Zimmer. Noch steckte das Fensterkreuz fest, was ihn einfach stören mußte. Wieder einmal bewies er, zu was er fähig war. Er hob den Arm und ballte die Hand zur Faust.
Mit einem Schlag hatte er das Fensterkreuz zertrümmert. Der Pfarrer sah es mit Schrecken. Er fror innerlich ein. Schweiß bildete sich auf seinem Nacken, die Augenlider waren ihm schwer geworden, und seine Augen selbst brannten.
Er wußte allerdings genau, daß er das Telefonat nicht mehr würde führen können. Da war der andere einfach zu schnell. Er schien sogar darauf zu warten.
Noch immer umklammerte Prantl sein Kreuz. Seine Handfläche war so feucht, daß er das Gefühl hatte, das Holz würde schmelzen. Überall auf seiner Haut juckte es. Der Schweiß war zum Teil getrocknet und hatte hauchdünne Salzkrusten hinterlassen.
Wieder bewegte sich der Zombie. Diesmal stemmte er sich auf die äußere Fensterbank. Da diese gemauert war, hielt sie dem Druck auch stand, und die Gestalt glitt in die Höhe.
Kein Laut war bisher aus ihrem offenstehenden Maul gedrungen. Sie handelte, ohne auch nur einen Kommentar abzugeben.
Mit nahezu gelassenen Bewegungen kletterte die Wachsleiche in die Wohnung des Pfarrers. Erst jetzt nahm Prantl etwas wahr, das ihm vor Minuten nicht aufgefallen wäre.
Es war der Geruch, der in den Raum hineinwehte. Nein, kein Geruch, schon ein widerlicher und ekliger Gestank, als hätte ihm jemand angefaulte Leichen in die Wohnung gelegt.
Es war der Pesthauch von Moder und Verwesung, der ihm da entgegenschlug. Er war dem Pfarrer nicht fremd. Auf Beerdigungen hatte er schon öfter den Modergeruch der Toten wahrgenommen, besonders bei sehr heißem Wetter in den Sommermonaten, wenn die Leichen zu lange aufgebahrt worden waren, aber diese Gerüche waren nie so intensiv gewesen wie dieser Gestank hier, der sich immer stärker ausbreitete und in dem Eindringling die einzige Quelle »besaß«.
Prantl rann es eiskalt den Rücken hinab, als er daran dachte. Wieso stank dieser Mann so penetrant?
Das war doch nur bei Toten der Fall, nicht bei lebendigen Wesen.
Tote - Lebende - Moder - Verwesung…
Die Begriffe wirbelten durch seinen Kopf wie Teile eines Puzzles. Vergeblich versuchte er, es zusammenzusetzen und für die Begriffe einen Oberbegriff zu finden.
Es fiel ihm nicht ein, es war ihm einfach zu fremd. Da kam er nicht mehr mit.
Der Zombie kletterte weiter. Er selbst gab keinen Laut von sich, obwohl sein Maul mit den verschorften, lappigen Lippen noch immer weit offenstand. Prantl hörte nur die Geräusche, die durch das Klettern entstanden, und er stellte fest, daß sich dieser eklige Leichengestank noch verstärkte.
Ihm wurde übel.
Das störte den Zombie nicht. Wie ein überdimensionaler aufgeblasener Ochsenfrosch hockte er im offenen Fenster, die Arme gestreckt, die Handballen auf die Kante der inneren Bank gestützt.
Erst jetzt fiel dem Geistlichen auf, daß der Eindringling keine Kleidung trug. Nicht einmal
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