0769 - Das Kollektiv
gestern noch nicht da gewesen war.
Langsam hob sie den Arm und strich mit den Fingern über eines der Blätter. Der Stängel pendelte leicht unter ihrer Berührung.
Wenn es ein Zeichen war, dann eines, das sie nicht zu deuten wusste. Wer hatte diese Blumen in der Einsamkeit gepflanzt?
Sie zuckte zusammen, als sie die Schritte hörte.
Noch bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie eine Berührung an der Hüfte - und von einem Augenblick zum anderen löste sich die Umgebung vor ihren Augen auf.
Das letzte Mitglied der Familie Murangira verschwand von dieser Welt.
***
Tausende Kilometer entfernt…
Wòng Lingfen wusste, dass er nicht der einzige Bewohner der Stadt Wushan war, der sich wegen des Jangtse-Staudamms eine neue Heimat suchen musste. Dieses Großprojekt der chinesischen Regierung zwang Hunderttausende Menschen zur Umsiedelung. Dort, wo noch heute ihre Häuser standen, würde es in wenigen Monaten nichts weiter geben als Wasser. Einen 600 Kilometer langen Stausee, in seiner Grundform dem heutigen Fluss Jangtsekiang entsprechend.
Das gestaute Wasser des alten Flusses würde über die Ufer treten und am Ende des Sees, im Drei-Schluchten-Stauwerk bei Meirendao, in die chinesische Zukunft münden - in ein Stromkraftwerk, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte.
Natürliche gab es Gegner des Plans, vor allem im Ausland. Die Naturschützer zum Beispiel, die um die landschaftlichen und kulturellen Schätze trauerten, die bald unwiderruflich vom Wasser verschlungen würden.
Wong Lingfen interessierte das kaum. Ihn interessierte, dass er Haus und Hof aufgeben und sich im oberen Teil Wushans eine neue Heimat suchen musste.
Heute war der letzte Tag, an dem er in sein altes, bereits leer geräumtes Haus zurückkehren würde. Ab Morgen war dieser Teil der Stadt verbotenes Gelände.
Wehmut überkam Lingfen, als er durch die Eingangstür trat und den vertrauten, muffigen Geruch der Bretterwände wahrnahm - und Überraschung, als er die winzige Sonne im Innern seiner Hütte erblickte, die über einer Kolonie mannshoher, regenbogenfarbener Blumen erstrahlte.
Wie kamen diese Blumen in seine Hütte? Und was war das für eine grell leuchtende, unheimliche Sonne, die scheinbar schwerelos in der Luft schwebte, ohne dass sie von einer Stromleitung gespeist wurde?
Wong Lingfen trat näher an die Blumen heran. Er fragte sich, ob er träumte.
Da bewegten sich die Blumen. Etwas bewegte sich zwischen ihnen!
Lingfen sah, wie sich die Stängel auseinander bogen, als ob jemand sie mit beiden Händen zur Seite drückte. Aber es war niemand zu sehen!
Da - eine Berührung.
Wong Lingfen nahm das Rätsel der Regenbogenblumen mit in eine andere Welt.
***
Zur selben Zeit, als in China und Ruanda zwei Menschen scheinbar spurlos verschwanden, klingelte im Büro des Polizeichefs von Krakau das Telefon.
Er drückte seine Zigarette umständlich im Aschenbecher aus.
»Bist du das, Ficharek?«, klang es aus der Hörmuschel.
»Wer zum Teufel spricht da?«, knurrte er.
»Agata Kadimierz.«
Er konnte es nicht glauben. Seine Tante Agata aus dem Hinterwäldler-Dorf Srednia Wies im Südosten Polens am Fuße der Karpaten. Sie hatten sich seit zehn Jahren nicht gesehen, und er konnte sich kaum an ihr Gesicht erinnern, geschweige denn, dass er sich im Geringsten dafür interessierte, was sie zu berichten hatte.
»Ich bin im Dienst, Agata…«
»Deshalb rufe ich dich an. Du musst etwas unternehmen!«
»Wogegen?« Warum habe ich bloß den verdammten Hörer abgenommen?
»Jan ist verschwunden.«
Jan Kadimierz, Agatas Mann. Ein Bauer, der in Srednia Wies geboren worden war und eines Tages dort sterben würde. Gott, wie Ficharek diese Bauerntölpel verachtete.
»Wann ist er verschwunden?«
»Gerade eben.«
Er überlegte, ob er nicht einfach den Hörer auflegen sollte. In einer Viertelstunde war Mittagspause, und danach hatte er noch einen telefonischen Termin mit dem Innenminister, den er auf keinen Fall versäumen durfte. »Sag mir, was passiert ist, Agata.«
»Jan hat mich mit dem Mobiltelefon angerufen. Er war auf dem Feld. Er sagte, dass er dort Blumen gefunden hat. Blumen, die so groß sind wie Menschen.«
Ficharek dachte an die Currywurst, die in der Kantine auf ihn wartete. »Was für Blumen?«
»Sie haben die Farben des Regenbogens. Und sie stehen mitten auf dem Feld, das noch gestern abgeerntet worden ist. Kannst du dir das vorstellen?«
»Hm. Nein. Das ist wirklich seltsam.«
»Er sagte, er steht genau vor
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