0770 - Kind der Finsternis
Dokument ohnehin nicht bekommen würde.
Auf der Stelle wurden ihre Erinnerungen wieder stärker. Asha sah sich selbst, wie sie in diesem schäbigen Badezimmer geduscht hatte. Ansonsten war das kleine Zimmer ihr bevorzugter Aufenthaltsort gewesen. Das Zimmer, in dem vermutlich auch ihr Kind zur Welt gekommen war…
Wie durch einen inneren Kompass angetrieben öffnete Asha eine Tür.
Bingo!
In diesem Zimmer hatten die Dämonen sie gefangen gehalten.
Und das Bett dort… es war nicht gemacht. Die Laken waren zerwühlt und wiesen große dunkle Flecken von getrocknetem Blut auf.
Das war ihr eigenes Blut, wie Asha Devi nun intuitiv erkannte. Blut, das während der Entbindung geflossen war…
Sie atmete tief durch. Noch niemals war sie ihrem Kind so nahe gewesen wie in diesem Raum. Kein Zweifel, hier hatte sie ihr Baby zur Welt gebracht.
Plötzlich glaubte Asha, das Echo ihrer eigenen Schreie zu hören, als die Wehen zu stark wurden. Schmerzen durchzuckten ihren Körper. Die Geburt hatte begonnen, es gab kein Zurück mehr. Die Natur forderte ihr Recht. Das Kind nahm seinen Weg. Und als Asha glaubte, die Qual nicht mehr aushalten zu können, vernahm sie plötzlich den ersten Schrei ihres Babys…
Die Polizistin lehnte sich an die Wand. Ihr Rücken war schweißnass. Die Uniformbluse klebte auf der Haut. Und doch war alles nur eine Illusion oder eine Erinnerung gewesen… Wo war ihr Kind?
Diese Frage quälte Asha nach wie vor. Doch es gab auch noch andere Dinge, die sie unbedingt wissen musste. Die Inspektorin war als Dämonenfeindin bekannt. Warum hatten diese Bestien sie am Leben gelassen, nachdem sie niedergekommen war? Es wäre für die Kreaturen der Finsternis ein Leichtes gewesen, die unbewaffnete und unter magischer Trance stehende Asha Devi zu töten.
Warum hatten sie es nicht getan? Jedenfalls haben die Bestien einen Fehler gemacht!, dachte Asha Devi grimmig. Denn solange ich lebe, werde ich diese Unholde verfolgen und vernichten, bis ich mein Kind gerettet habe!
Die Inspektorin schaute sich in dem öden Zimmer um. Ihr polizeilich geschultes Auge suchte nach Hinweisen. In dem Liebesroman lagen einige lange dunkle Haare, die Asha Devi unschwer als ihre eigenen erkannte. Ein weiterer Beweis dafür, dass sie wirklich hier gewesen war. Daran hatte sie ohnehin schon keinen Zweifel mehr. Asha Devi untersuchte jeden Quadratzentimeter in dem Zimmer. Der Schrank war leer bis auf eine unmodische Strickjacke, die auf einem Drahtbügel hing. Schließlich zog die Polizistin sogar das blutige Bettzeug ab. Und dort, zwischen den Laken, fand sie endlich etwas.
Es war ein Anhänger an einer feinen metallenen Kette. Asha Devi hielt ihn gegen das Licht. Sie kannte derartige Arbeiten.
Ganz Indien war voll davon.
Der Anhänger war nicht größer als Ashas Daumen. Er stellte einen indischen Gott dar. Solches Kunsthandwerk wurde in Hinterhof-Werkstätten in Kalkutta, Bombay oder New Delhi angefertigt.
Manche dieser Mini-Statuen wurden von Heiligen Männern gesegnet, aber die meisten nicht. Asha konnte nur schätzen, wie viele davon gutmütigen Indien-Touristen angedreht wurden. Vermutlich waren inzwischen Millionen Exemplare davon im Umlauf.
Aber welcher Gott wurde hier dargestellt? Ganesha, der Elefantengott, war es sicher nicht. Auch nicht Hanuman, der Affengott. Ganz zu schweigen von Brahma, Krishna oder Shiva. Es musste ein weniger wichtiger Bewohner des indischen Götterberges Meru sein.
Vielleicht Gandharva, mutmaßte Asha Devi. Der Hinterhof-Künstler hatte sich redliche Mühe gegeben, einen schönen und gut gewachsenen Mann darzustellen. Ja, es war sehr gut möglich, dass hier Gandharva gezeigt werden sollte.
Die Inspektorin ließ den Anhänger nebst Kette in einer Tasche ihrer Uniformbluse verschwinden und knöpfte sie sorgfältig zu…
***
Meditiationszentrum der »Gandharva Society«, Fulham
Road, London, England
Asha Devi beschloss, mit ihrer Recherche bei den westlichen Anhängern des indischen Gottes anzufangen. Persönlich hielt sie nicht allzu viel davon, die Religion ihres Landes als Exportartikel zu benutzen. Aber wenn der Anhänger wirklich Gandharva darstellen sollte, dann führte die Spur wahrscheinlich hierher…
Die Polizistin klopfte. Es dauerte nur einige Momente, bis ein blondes Mädchen öffnete. Asha registrierte mit einem Blick, dass diese Engländerin schwanger war. Genau wie sie selbst vor einiger Zeit…
Falls die Blonde sich wunderte, eine Frau in indischer Polizeiuniform vor sich zu
Weitere Kostenlose Bücher