0776 - Racheengel Lisa
Inspektor, nein, das hätte ich bemerkt. Das wäre mir aufgefallen. Es war nicht der Tod, auf keinen Fall. Es war einfach etwas anderes, aber immer die gleiche Karte.«
»Das wissen Sie?«, schaltete ich mich ein.
»Ich bekam es mit. Es war eine Frauenkarte. Das heißt eine Karte mit einer Frau.«
»Welche denn?«
»Die Herrscherin, die Kaiserin. So viel habe ich noch in meiner Erinnerung gespeichert. Die dritte Karte aus dem Spiel. Wie gesagt, sie trat mehrmals auf, darüber wunderte ich mich natürlich, und ich wollte deshalb mehr über sie wissen.«
»Sie haben nachgeforscht.«
»Stimmt, Mr. Sinclair. Es ist die Karte der weiblich gedachten Welt. Die Herrscherin erkennt die Wirklichkeit als Gesamtheit aller Lebensgesetze. Denn sie ist die Verwalterin der Erde, der menschlichen Kultur. Sie ist aber auch die Ritterfrau, die höfische Bräuche unter Kontrolle hält.« Er fächerte die Karten auseinander und suchte die bestimmte hervor. Er zeigte sie uns. »Da, sehen Sie. Die Herrscherin trägt das Königszepter, die Weltkugel mit dem Kreuz. Sie sitzt auf einem Thron und hält diesen Stab im Arm. In der anderen Hand das Wappenschild mit dem Adler. So haben die Menschen des Mittelalters sie gesehen. Hinzu kommt noch die goldene Krone, die zusätzlich mit Edelsteinen bedeckt ist. Das war genau die Karte, die immer zurückblieb. Wenn etwas permanent passiert, dann muss es einen Menschen ja verändern. Dann muss sich dieser vorkommen wie jemand, der über allem steht. Oder liege ich da mit meiner Psychologie falsch?«
»Nein«, sagten Suko und ich wie aus einem Munde.
»Helen hat meiner Tochter den falschen Weg gewiesen, davon bin ich nach dem heutigen Wissen überzeugt.«
»Auch den Weg zu den Engeln?«, fragte ich.
»Das ist die Frage. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich nichts dergleichen erfahren. Im Klartext heißt dies, Helen hat darüber mit unserer Tochter nicht gesprochen, was aber nichts heißen soll, denn ich war nicht so oft mit ihnen beiden zusammen. Ich habe mich immer ein wenig zurückgehalten.«
»Die Taten geschahen nach dem Tod Ihrer Frau.«
»Sicher.«
»Da hat Lisa dann einen inneren Knacks gekriegt.«
»Stimmt.«
»War sie in Behandlung?«
»Später, Mr. Sinclair, viel später. Ich sage immer, als sie bereits für unsere Welt verloren war.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Er lächelte müde. »Der Drang zu den Engeln hin. Er trat so plötzlich bei ihr auf. Vielleicht war er schon immer da, sodass er mit dem Tod meiner Frau erst den letzten Schub abbekommen hat. Jedenfalls weiß ich es nicht genau, und auch ihre Therapeutin hat nichts aus ihr herausbekommen. Ich habe einmal einen Bericht erhalten, er war ziemlich trostlos, das können Sie mir glauben.« Darius faltete die Hände. »Jetzt bin ich davon überzeugt, dass Lisa ständig nur mit dem Gedanken an Flucht beschäftigt war. Sie muss sich perfekt verstellt haben, dass ihre Flucht so glatt gelang und man sie nicht mehr einfangen konnte. Die Leute waren auch nicht bei uns, was eigentlich normal gewesen wäre. Ich komme da irgendwie nicht so recht mit, wenn Sie verstehen.«
»Das stimmt.«
Suko hatte seine Tasse in der Zwischenzeit geleert und sich ebenfalls Gedanken gemacht. »Bleiben wir mal bei Ihrer verstorbenen Frau. Sie hatte zu Lisa ein besonderes Verhältnis, das steht fest, das können Sie behaupten.«
»Exakt.«
»Ihre Frau ist tot, Lisa drehte, wie Sie berichteten, bei der Beerdigung beinahe durch. Wenn sie so an Ihrer Frau gehangen hat, wird es für sie doch furchtbar gewesen sein, das Grab nicht mehr besuchen zu können. Oder hat man sie mal aus der Klinik entlassen?«
»Auf keinen Fall.«
»Dann ist der Drang sehr stark.«
»Kann man sagen.«
Ich lächelte, weil ich wusste, worauf mein Freund hinauswollte.
»Wo liegt Ihre Frau begraben?«
Alfred Darius sagte zunächst nichts. Er starrte uns an, bevor er langsam nickte. »Ja, ich weiß, was Sie wollen. Ich weiß es genau. Sie hoffen darauf, Lisa am Grab meiner Frau zu finden.«
»Richtig.«
Er lehnte sich zurück und strich mit beiden Händen über sein Gesicht. »Ja, Sie werden wahrscheinlich Recht haben. Mit diesem Gedanken habe ich mich ebenfalls beschäftigt, doch ich wollte nicht glauben, dass Lisa so etwas tun könnte. Das ist in ihrer Lage nicht logisch. Sie hätte sich denken können, dass auch wir darauf kommen und…«
»Mr. Darius«, sagte ich leise. »Sie dürfen von Ihrer Tochter kein logisches Handeln erwarten. Sie reagiert nur mehr
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