0776 - Racheengel Lisa
gefühlsbetont und das eingepackt in ihre eigene Welt. Sie ist anders geworden. Ich habe sie bisher nicht gesehen, jedoch viel über sie erfahren. Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass sie versucht, am Grab ihrer Mutter einen Kontakt aufzunehmen.«
»Mit der Toten?«, keuchte Darius.
»Das… das gibt es …«
Ich hob die Hand. »Sagen Sie nicht, dass es so etwas nicht gibt. Wir haben oft genug schon das Gegenteil erlebt. Wir wissen auch, dass es Engel gibt, dass sie sich manches Mal zeigen, und dass Menschen existieren, die mit den Engeln Kontakt aufnehmen und diesen Kontakt behalten. Sie intensivieren ihn, sie haben sich sogar in gewissen Clubs und Gesellschaften zusammengeschlossen, und sie werden in der letzten Zeit immer stärker. Die Kirche unterstützt diese Praktiken nicht, doch der Geheimdienst des Vatikans hat sich auf solche und ähnliche Fälle spezialisiert. Ich habe selbst vor einiger Zeit mit einer Agentin des Vatikans Kontakt gehabt. Sie hieß Franca Simonis und ist leider umgebracht worden. Da bahnt sich etwas an, was wir auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen dürfen.«
Alfred Darius runzelte die Stirn. »Was Sie mir da gesagt haben, ist neu für mich.«
»Es soll auch neu für Sie bleiben. Ich gehe nur davon aus, dass Ihre Tochter möglicherweise mit einer derartigen Gruppe Kontakt gehabt hat. Sie stehen eigentlich alle miteinander in Verbindung. Können Sie uns da weiterhelfen?«
»Das ist schwer.«
»Wissen Sie davon?«
»Nein, aber ich…« Er hob die Schultern. »Meine Güte, ich kann das alles nicht fassen. Sie erhielt hin und wieder Anrufe nach Helens Tod, das stimmt. Sie kriegte auch Post. Ich habe die Briefe nie geöffnet, und ich erinnere mich noch an die Beerdigung meiner Frau. Da waren schon einige Personen, die ich nicht kannte.«
»Männer oder Frauen?«
»Beides.«
»Hatte Ihre Frau denn Kontakt?«
Er hob die Schultern. »Wenn ja, Mr. Sinclair, dann ist es mir nicht aufgefallen. Helen führte zwar kein eigenes Leben, aber sie hatte schon eine gewisse Privatsphäre, in die ich nicht eindringen wollte. Zum Beispiel die Karten.«
Ich nickte. »Es hat keinen Sinn, wenn wir hier lange herumsitzen und über das Problem reden. Wir müssen handeln, das heißt, wir werden uns den Friedhof aus der Nähe anschauen und besonders das Grab Ihrer Frau. Können Sie uns den Weg beschreiben?«
»Das könnte ich, es ist nicht nötig, Mr. Sinclair. Denn ich werde mit Ihnen fahren.«
»Wie Sie wollen.«
»Sie haben nichts dagegen?«, staunte er.
»Nein, denn da haben wir Sie unter Kontrolle. Sie können das Wort auch durch den Begriff Schutz ersetzen. Wir möchten nicht, dass Sie sich in die gleiche Gefahr begeben wie Ihr Bruder Hank.«
»Nein, das will ich auch nicht.«
»Dann kommen Sie, Mr. Darius. Ich möchte mich gern im Hellen auf dem Friedhof umschauen.«
»Okay, ich ziehe mir nur etwas anderes an.«
Er verschwand. Suko und ich blieben zurück. »Ist das richtig, ihn mitzunehmen?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Wir haben ihn unter Kontrolle. Außerdem könnte es sein, dass die Tochter dem Vater plötzlich gegenübersteht. Was dann geschieht, würde mich interessieren.«
»Ja, wenn man es so sieht, schon. Oder hast du auch das Schneeball-Syndrom?«
»Was meinst du?«
Suko lächelte. »Noch ist es ein Schneeball. Aber er rollte bereits den Hang hinab, und wenn er ihn hinter sich gelassen hat, ist er zu einer Lawine geworden, die alles zerstört.«
»Dann müssen wir ihn vorher eben stoppen.«
»Das wäre gut, John.«
***
Der Friedhof, die andere Welt, das Reich der Toten, die unter der Erde lagen und verfaulten. Lisa verfügte über genügend Phantasie, um sich so etwas vorstellen zu können, und sie dachte auch darüber nach, während sie mit kleinen Schritten und eingepackt in ihren Mantel über einen schmalen, durch welkes Laub herbstlich eingefärbten Weg ging.
Sie dachte an die Gräber und die Toten. In den tiefen Löchern lagen nur die Leiber, die Knochen, das Fleisch und das Wasser. Nicht lange nach der Beerdigung begann der Verfall. Da nahm das Fleisch eine andere Farbe an, da quoll es auf, da wurde es weich und rutschte allmählich von den Knochen.
Würmer und Käfer krochen herbei, verbissen sich in die Reste, ernährten sich davon, und die Menschen bekamen das zu spüren, was sie auch verdienten.
Ein Körper war nichts wert. Viel Wasser, fast nur Wasser, auch noch Staub…
Sie schüttelte sich, und plötzlich hasste Lisa die menschlichen Körper.
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