0776 - Racheengel Lisa
bemerkte, dass er aufatmete, und einen Moment später strömte ein Redeschwall aus seinem Mund, sodass er seine direkte Umgebung vergaß.
Lisa konnte sogar verstehen, was er sagte, nur interessierte es sie nicht, sie hielt bereits den Türgriff der Zelle fest. Der Mann sah sie nicht, er hatte ihr den Rücken zugedreht, starrte gegen den Apparat, hielt den Hörer mit der linken Hand und unterstrich durch die Bewegungen der rechten seine eigenen Worte.
Sie riss die Tür auf.
Warme Luft schwappte ihr für einen Moment entgegen. Sie störte sich auch nicht an dem miesen Geruch.
Blitzschnell griff sie zu.
Der Mann hatte im letzten Augenblick etwas bemerkt. Wahrscheinlich war er durch die kalte, in die Zelle strömende Luft aufmerksam geworden, doch er reagierte zu spät. Da hatte Lisa die Geldbörse bereits ergriffen und die Hand wieder zurückgezogen.
Sie wuchtete die Tür zu, sodass der Mann, der nach draußen springen und sie verfolgen wollte, gegen das Glas prallte.
Er fiel zurück, und Lisa hörte sein Schreien. Darüber konnte sie nur lachen, denn längst hatte sie sich umgedreht und befand sich bereits auf der Flucht.
Natürlich hatte sie sich zuvor umgeschaut und sich die Umgebung genau eingeprägt. Der Weg stand fest, sie wusste, wie sie laufen musste, ohne dabei zu sehr aufzufallen. Es gab noch die schmalen Wege, auf denen erstes Laub lag und Rutschfallen bildete. Hinter sich hörte sie die Stimme des Mannes. Der Kerl kriegte sich nicht mehr ein.
»Verdammte Diebin! Du Miststück…!« Er tobte, und Lisa lachte.
Sie war schon so gut wie entkommen.
Einige Minuten später hatte sie den Park verlassen. Etwas irritiert blieb sie stehen. Das Gewühl vor ihren Augen passte im ersten Moment nicht. Gleichzeitig aber gaben ihr die Menschen Deckung.
Zwischen ihnen konnte sie vor etwaigen Verfolgern untertauchen.
Wichtig war zunächst ein Raum oder ein Ort, wo sie in Ruhe gelassen wurde. Ein kleines Café kam ihr gerade recht. Sie schob die Tür auf, hörte die Glocke bimmeln und gelangte abermals in eine andere Welt. Sie war ziemlich warm, und Lisa setzte sich in die hinterste Ecke. Den Mantel zog sie trotzdem nicht aus, drückte ihr strähniges Haar zurück und hoffte, dass sich in der Geldbörse genügend Geld befand, das ihr die Sorgen der nächsten Tage abnahm.
Als die Bedienung – eine ältere Frau – sie nach ihren Wünschen fragte, bestellte sie eine heiße Schokolade. Erst als ihr die Frau den Rücken zuwandte, holte sie die Beute aus der Manteltasche und öffnete die flache Börse.
Sie hörte das leise Knistern der Scheine. Sie bewegten sich zusammen mit dem dünnen Leder. Ein Lächeln glitt über die Lippen der jungen Frau. Scheine holte sie hervor. Es waren mehr als zweihundert Pfund, davon konnte sie schon leben. Kleingeld war ebenfalls vorhanden, auch eine Kreditkarte. Die Adresse des Mannes fand sie auch, die interessierte sie jedoch nicht. Wichtig war das Geld, das in der rechten Hosentasche verschwand.
Ihr Getränk wurde gebracht. Sie erhielt einen Keks dazu. Er war trocken, staubte schon, aber sie würgte ihn runter. Sie trank den heißen Kakao in langsamen Schlucken und dachte darüber nach, wie es für sie weitergehen sollte.
Die Zukunft sah relativ günstig aus, obwohl sie auf der Fahndungsliste stand. Natürlich würde sie den Polizisten nicht in die offenen Arme laufen, zu ihrem Elternhaus wollte sie vorläufig auch nicht zurück, zunächst musste sie an sich denken.
Zwei Ziele gab es.
Da war zum einem der Friedhof, wo ihre Mutter begraben lag. Es gehörte sich einfach, dass sie ihr einen Besuch abstattete, das war sie dieser Frau schuldig, und sie sprach die Worte auch aus. »Ja, Mum, ich komme zu dir. Ich weiß, dass du inzwischen zu ihnen gehörst. Du bist der Engel, den ich verehre. Du hast es mir immer gezeigt, du hast an mich geglaubt, du hast die Karten gelegt. Du kannst nicht richtig tot sein, das kannst du nicht. Du bist der Engel, ich bin es…«
»Haben Sie was gesagt, Miss?« Die Bedienung stand plötzlich vor ihr und schaute sie etwas reserviert an.
»Nein, wieso?«
»Es hörte sich so an.«
»Da haben Sie sich geirrt, aber ich möchte zahlen.«
»Gut.« Es war eine kleine Summe, und Lisa legte noch ein Trinkgeld drauf.
»Es geht Ihnen doch gut, Miss, nicht?«
»Ja, warum?«
»Sie sind so blass.«
»Das liegt am Wetter, es deprimiert mich etwas. Ich bin ein Sommertyp, wissen Sie?«
»Ja, kann ich verstehen. Schönen Tag noch, Miss.« Die Frau watschelte
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