0776 - Racheengel Lisa
Sie stand da und kicherte. In ihren Augen leuchtete der Wahnsinn, und so schaute sie zu, wie Betty zurückwankte, den Pflock noch immer in der Brust.
Sie kam nicht weit. Nach zwei, drei Schritten ließen ihre Kräfte nach. Sie hob noch die Arme, als wollte sie mit einer letzten verzweifelten Bewegung den Pflock aus ihrer Brust reißen, doch dazu kam es nicht mehr. Ihr fehlte einfach die Kraft.
Betty brach zusammen.
Den Pfahl zog ihr wenig später Lisa aus dem Körper. Zuvor zögerte sie noch, umklammerte sein stumpfes Ende für einen Moment und schaute in das blasse Gesicht, das bereits von den Schatten des Todes gezeichnet worden war.
Über die Augen hatte sich ein Schleier gelegt. Betty atmete noch, aber sie röchelte, und bei ihren letzten Worten sprühte blutiger Schaum auf ihren Lippen. »Warum nur… warum …?«
Lisa lächelte kantig. Ihr Blick schwebte über die Betreuerin hinweg in die Düsternis des Parks hinein. »Die Engel, verstehst du? Die Engel haben es mir gesagt…«
Betty konnte nicht mehr antworten. Sie war inzwischen gestorben, und Lisa zog endlich den Pflock aus der Brust der Frau. Sie reinigte ihn im Gras des Gartens, bevor sie ihn wieder wegsteckte und dann tief, sehr tief durchatmete.
Es war geschafft!
Lisa stand auf. Als eine einsame Gestalt hielt sie sich im Garten auf und erinnerte dabei an eine Statue, die ein Künstler zwischen das Buschwerk gestellt hatte.
War sie frei?
Noch nicht, denn es konnte sein, dass sie von jemandem beobachtet worden war.
Sie schaute sich um und war zuvor bis dicht an das Brombeergestrüpp zurückgetreten. Niemand war zu sehen. Sie hörte keine Schritte. Es leuchtete kein Licht in der Nähe. Nur weiter entfernt, wo die Häuser standen, zeigten die Fenster die hellen Vierecke.
Sie war zufrieden, sehr zufrieden sogar, denn bisher war alles glattgegangen.
Die kalte Luft tat ihr gut. Sie kühlte auch ihr erhitztes Gesicht. Lisa war nicht undankbar. Sie warf einen Blick hoch zum Himmel, wo sich in das glatte Schiefergrau schwere Regenwolken hineingedrängt hatten. Sie würden bald ihre Nässe verlieren, und das vom Himmel fallende Wasser würde die Spuren verwischen.
Regen mochte Lisa nicht, denn für sie war er nichts anderes als die Tränen der Engel. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihre Freunde weinten oder traurig waren, und sie würde alles tun, damit sie so wenig schluchzten wie möglich.
Dann ging sie weg. Sie schaute sich nicht einmal nach Betty um.
Diese Frau war ihr egal, obwohl sie sich jahrelang um sie gekümmert hatte. Betty hatte nie an die Macht der Engel glauben wollen, und das war ihr großer, jetzt tödlicher Fehler gewesen. Jeder Mensch, der nicht an die Engel glaubte, beging einen Fehler, und jeder Mensch würde dafür büßen müssen, das stand fest.
Man musste ihnen wieder den Respekt zollen, der ihnen früher entgegengebracht worden war, als die Welt noch so rein gewesen war. Erst wenn die Menschen wieder an die Engel glaubten, war die Welt in Ordnung.
Ich bin eine Auserwählte, dachte Lisa, ich allein. Mich haben sie unter ihren Schutz gestellt, und ich werde mich sehr dankbar erweisen, das schwor sie.
Wie ein Geist schlich sie durch den düsteren Park. Sie hatte den Mantel nicht zugeknöpft, sodass er wie ein schmaler Umhang hinter ihrer Gestalt herwehte. Sie traf auf keinen Menschen, und wenn, dann hätte sie sich schon zu wehren gewusst.
Vor der hohen Mauer blieb sie stehen. Auf der Krone blinkte etwas, ein feiner Draht, der bei der geringsten Berührung einen Alarm auslösen würde. Lisa wusste auch von den Kameras, die weite Teile des Parks überwachten.
Es fing an zu regnen.
Die Engel weinten, und Lisa hoffte, dass es Tränen der Freude waren, weil sie endlich freigekommen war. Nur noch die Mauer musste sie überwinden, dann war alles okay.
Sie war geschickt, als hätte sie es geübt. Lisa kletterte nicht an dem Gestein selbst hoch, sie verließ sich auf einen in der Nähe stehenden Baum mit starken Ästen. Ein Jahr lang hatte sie den Ausbruch geplant.
Diesmal knöpfte sie ihren Mantel zu, damit er sie bei der Kletterei nicht behinderte und sie irgendwo festhakte. Der Regen rann aus den Wolken. Die Tropfen waren dick und kalt, als sie auf ihre Gesichtshaut hämmerten. Sie fielen klatschend gegen den Boden und machten ihn noch weicher. Irgendwann würde sich der Garten in eine Schlammwüste verwandelt haben, wenn es so weiterregnete.
Lisa hatte noch nicht die höchste Stelle des Baums erreicht, als sie schon auf
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