0776 - Racheengel Lisa
die Mauerkrone schauen konnte. Dort lief der dünne Draht entlang wie ein scharf gespanntes Seil. Ihn durfte sie auf keinen Fall berühren, und sie musste sich auch jetzt beeilen, denn es würde auffallen, wenn Betty und sie nicht zum Abendessen erschienen.
Noch einmal maß sie die Entfernung. Der Regen hatte die Mauerkrone glatt gemacht, aber mit derartigen Dingen musste sie einfach rechnen. Noch einmal atmete sie tief durch, sie drückte sich dann in die weichen Zweige zurück und gab sich den nötigen Schwung, wobei sie die Gegenbewegung voll ausnutzte.
Sie flog der Mauer entgegen, den Blick nach unten gerichtet. Der Draht kam ihr plötzlich so schrecklich breit vor. Nur nicht berühren, dachte sie, auf keinen Fall dagegentreten.
Ihr rechter Fuß bekam Kontakt, allerdings außerhalb des Drahtes.
Die Hacke befand sich schon beinahe an der Kante. Für einen Moment stützte sich Lisa dort noch ab und erhielt so wieder den Schwung, den sie auch benötigte.
Sie übersprang die Mauer.
Wie eine flatternde Gestalt fiel sie in die Tiefe. Der Mantel wurde dabei vom Wind erfasst und blähte sich auf, sodass er zu einer kleinen Glocke wurde, die zusammenfiel, als Lisa auf den nassen Untergrund prallte.
Sie spürte den Aufprall bis in den letzten Winkel ihres Gehirns hinein. Der Schwung riss sie nach vorn, sodass sie bäuchlings in die Nässe hineinglitt.
Das war ihr völlig egal. Mit dem Gesicht landete sie in einer Pfütze, doch sie hatte es geschafft, nur dies zählte, und sie war nicht gesehen worden.
Lisa rappelte sich auf. Es klappte wunderbar. Sie hatte sich keinen Fuß verstaucht, sie war nicht umgeknickt, sie hatte sich auch beim Aufprall keine Verletzung zugezogen.
Es war alles so eingetroffen, wie sie es sich vorgestellt hatte, und sie dankte schon jetzt den Engeln dafür, dass sie ihre schützenden Hände über sie gehalten hatten.
Lisa schaute nach links.
Dort standen die hohen Laternen, die ihr blauweißes Licht auf die Straße warfen und auch den Eingang der Klinik beleuchteten. Dichte Regenschleier durchzogen die Lichtinseln, wobei die Tropfen funkelten wie ein Meer unzähliger Diamanten.
Von dort drohte keine Gefahr, noch nicht. Lisa würde auch in die andere Richtung laufen und sich nicht auf der Straße halten, sondern später in die Büsche schlagen.
Lisa Darius setzte ihre Flucht fort. Sie hatte es sehr eilig, dennoch lief sie relativ lautlos, denn unter ihren Schuhen befanden sich Gummisohlen. Es patschte nur, wenn sie in die Pfützen trat, doch damit konnte sie leben.
Da die Straße um eine Kurve führte, blieb die verfluchte Klinik sehr schnell hinter ihr zurück. Es war ihr zweiter Ausbruch gewesen, und sie nahm sich jetzt vor, sich nicht mehr schnappen zu lassen. In den letzten Jahren war sie schlauer geworden, sie wusste jetzt, wie sie sich zu verhalten hatte.
Die Klinik lag zwar hinter ihr, aber den schaurigen Klang der Sirenen hörte sie trotzdem. Die Tote und damit auch ihre Flucht mussten entdeckt worden sein. Es kümmerte Lisa nicht, sie würde sich ihren Weg schon bahnen, und das Wetter half ihr dabei, denn der Regen fiel in einer wahren Flut aus den Wolken, als wollte er alle Schlechtigkeiten der Welt kurzerhand zudecken…
***
Es war Alfred Darius unwahrscheinlich schwer gefallen, sich zu diesem Geständnis durchzuringen. Nach den entscheidenden Worten stöhnte er befreit auf, legte den Kopf zurück, wischte mit einem Tuch Schweiß von seinem Hals, und ich sah, dass seine Hand dabei stark zitterte. »Ich habe Ihnen den Toten zeigen wollen, damit sie sich selbst ein Bild machen können. Sagen Sie Ihren Kollegen Bescheid, dass sie sich um ihn kümmern und ihn dann mitnehmen.«
»Was macht Sie so sicher, dass Sie Ihre Tochter als die Mörderin bezeichnen.«
»Die Art des Todes.«
»Wie meinen Sie das?«
Darius stand auf, holte eine mit Whisky gefüllte Karaffe aus einem kleinen Schrank und auch zwei Gläser. »Wenn Sie bleiben wollen, wird es länger dauern. Trinken Sie einen Schluck mit?«
Ich nickte.
»Ohne Eis, nehme ich an.«
»Auch das.«
Die Flüssigkeit gluckerte in die Gläser, die Darius zur Hälfte füllte.
Er nahm sein Glas, prostete mir schweigend zu. Er trank, während ich nur nippte. Als er sein Glas abgestellt hatte, erinnerte ich ihn daran, dass ich noch auf eine Antwort wartete.
»Ja, ich weiß es, Mr. Sinclair. Ich kann Ihnen genau sagen, was mich so sicher gemacht hat. Es ist die Art des Sterbens. Mein Bruder Hank ist durch einen Pflock getötet
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