0776 - Racheengel Lisa
zeigten, denn die normalen Menschen waren dafür noch längst nicht reif.
Lisa bewegte ihre Hände. Sie ballte sie zu Fäusten, öffnete sie wieder und schloss sie erneut. Das ewige Licht schien ihr zuzublinzeln und ihr Hoffnung zu machen, und sie atmete noch einmal die weihrauchgeschwängerte Luft ein.
Als sie sich umdrehte, schaute sie in das lächelnde Gesicht ihrer Betreuerin. Betty war doppelt so alt wie sie, eigentlich eine freundliche Frau, die ihr aber bei bestimmten Dingen nicht geholfen hatte, und das nahm ihr Lisa übel.
Betty lächelte jetzt. »Ist alles okay?«
»Ja, es hat mir gut getan.«
»Das freut mich.«
»Ich gehe gern in die Kirche, weißt du?«
»Natürlich.«
Lisa erzählte fast jeden Abend das Gleiche, und Betty gab auch immer die sich wiederholenden Antworten. Es glich schon einem Ritual, keiner nahm es mehr richtig ernst, und genau das hatte Lisa damit erreichen wollen. Sie wollte Betty einlullen, und sie hatte sich dafür Jahre Zeit genommen.
Die beiden so unterschiedlichen Frauen gingen nebeneinander her und auf die schmale Kapellentür zu. Betty mit hoch erhobenem Kopf und sehr aufmerksam, Lisa schaute zu Boden, als wollte sie jeden Staubfussel entdecken.
Betty öffnete die Tür.
Die Luft war schon kalt geworden. Sie flutete den beiden Frauen entgegen und in deren Gesichter. Lisa zog die Schultern hoch, weil sie fror, und sie schaute sich auch sofort um, ob irgendjemand auf sie wartete.
Das war nicht der Fall. Vor ihr lag der Garten, in dem die Kapelle den Mittelpunkt bildete. Es gab niemand, der den Garten pflegte, so hatte er im Laufe der Zeit ziemlich verwildern können. Da waren die Büsche stark gewachsen, da reichten die Äste der Bäume über die Krone der weiter entfernten Mauer hinweg, und wer wollte, der konnte sie leicht überklettern.
Nicht einmal war es in der letzten Zeit vorgekommen, denn wer durch den Garten und zur Kapelle ging, gehörte zu den leichteren Fällen, die therapiert werden konnten.
Bei Lisa war das nicht der Fall. Aus diesem Grunde lebte sie auch von den »normalen« Patienten getrennt, was sie überhaupt nicht störte. Wichtig war, dass sie an der Messe teilnahm, und ihre Begleiterin wurde dafür extra bezahlt.
Hinzu kam, dass sich Lisa im letzten Jahr nicht aggressiv gezeigt hatte und mehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Sie hatte viel geschrieben, besonders über ihre Gespräche mit den Engeln und dem Auftrag, die Welt zu reinigen. Das Böse musste vernichtet werden, es durfte auf keinen Fall weiterexistieren.
Sie mussten an der kleinen Kirche entlanggehen, wo sich der Weg im einfallenden Dämmerlicht kaum noch abzeichnete. Zudem waren seine Steinplatten überwachsen, an manchen Stellen durch das Moos sogar glatt geworden.
Beide hatten es nicht eilig. Es war die Zeit, wo sich Betty gern mit Lisa unterhielt. Sie ging links neben der Patientin, hatte ihr einen Arm auf die Schulter gelegt. »Der lange Sommer ist vorbei, Lisa. Jetzt werden die Tage wieder kürzer und dunkler.«
»Ich weiß.«
»Bist du traurig darüber?«
»Nein, nein«, erwiderte sie schnell. »Das gehört ja zum Leben. Es sind immer die Jahreszeiten, die ich genieße. Ich freue mich auf den Herbst ebenso wie auf den Winter, wenn der Schnee fällt. Es macht mich nicht mal traurig.«
»Dann hast du es besser als viele andere Menschen.«
»Ich weiß. Meine Mutter war auch immer traurig, wenn die dunkle Jahreszeit nahte. Jetzt liegt ihr Körper in der Erde. Er ist längst vermodert. Würmer und Käfer haben an ihrem kalten Fleisch genagt und es durchdrungen.«
Betty schüttelte sich. Sie begriff die junge Frau nicht, dass sie so etwas überhaupt sagte. Irgendwo hatte sie schon einen Hang zum Morbiden, und sie kam des Öfteren auf das Thema Tod und Vergessen zu sprechen, aber daran musste man sich eben gewöhnen.
»Und doch geht es ihr nicht schlecht.«
»Wen meinst du?«
»Ich spreche von meiner Mutter.« Lisa blieb stehen und schaute gegen den schiefergrauen düsteren Himmel. »Sie ist dort oben, sie ist bei Ihnen, das verstehst du, nicht?«
»Ja, ich verstehe es.«
»Meine Mutter sieht die Engel von Angesicht zu Angesicht. Sie wird von ihnen akzeptiert, sie wird auf Händen getragen, sie gleitet hinein in all die Herrlichkeit und Pracht. Wenn ich darüber nachdenke, kann ich mich für sie nur freuen.«
»Deine Mutter wird es bestimmt gut haben.«
Lisa hob die Schultern und ging weiter. Sie hatte ihren Blick jetzt nach vorn gerichtet, wo sich bereits die
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