079 - Die Insel der wandelnden Toten
aus den verwirrenden Linien Buchstaben, die aber sofort wieder verschwanden, wenn das Sonnenlicht nicht in einem Winkel von fünfundvierzig Grad drauffiel.
Dorian las:
Valiora ist auf Deinen Wegen
Ihr Auge blickt aus Stein
Sie ist von Asmodi gefangen
Kommt Stheno oder Euryale Dir entgegen
Wachsen Schlangen aus wildem Wein
Und Deine Jugend ist gegangen.
Dorian ließ die Karte sinken.
„Verstehen Sie das?“ fragte Gianni.
„Teilweise“, antwortete Dorian. „Ich weiß jetzt, daß das Mädchen, das uns hergelockt hat, mit Valiora identisch ist. Sie kann uns mit Hilfe der Steinstatuen beobachten. Wahrscheinlich gibt es mehrere davon. Aber ich bin nicht sicher, daß die Warnung für mich bestimmt ist. Es paßt gar nicht zu Olivaro, daß er die Versform gewählt hat.“
„Wollen Sie mich dumm sterben lassen, Hunter?“ sagte Gianni ungehalten. „Sagen Sie schon, was die Botschaft zu bedeuten hat!“
Dorian blickte in Richtung Norden. Dort stand in einiger Entfernung eine Steinstatue, wie sie sie auf der Dschungellichtung gesehen hatten.
„Wir verschwinden hier besser“, sagte Dorian. „Wir werden beobachtet. Wo ist Umberto?“
„Er verscharrt seinen Bruder.“
„Was?“ Dorian packte Gianni am Arm. „Und Sie lassen das zu? Habe ich nicht eindringlich genug vor einer Ansteckung durch den Toten gewarnt?“ „Umberto hat versprochen, vorsichtig zu sein.“
„Aber es nützt nichts, wenn er seinen Bruder verscharrt. Franko muß verbrannt werden!“
Dorian packte den Flammenwerfer und rannte auf den Dschungel zu. Er glaubte, den Weg zu der Lichtung zu kennen, trotzdem verirrte er sich einige Male, bevor er sein Ziel erreichte.
Die Steinstatue stand noch immer an ihrem Platz. Sie war so leblos, wie Marmor es nur sein konnte. Dennoch hatte Dorian das Gefühl, daß sie ihn beobachtete.
Zwei Meter von der Mädchenstatue entfernt war eine Grube ausgehoben worden, daneben lag ein Spaten. Die Grube war etwa einen halben Meter tief – und leer. Von Umberto und seinem Bruder Franko fehlte jede Spur. „Wann ist Umberto hierher gegangen, um seinen Bruder zu bestatten?“ fragte Dorian Gianni.
„Es war noch vor Sonnenaufgang.“ „Dann kann ich mir schon denken, was passiert ist.“
Umberto stieß den Spaten in die Erde. Nach einigen Stichen blickte er zu seinem reglos daliegenden Bruder. Eine schreckliche Veränderung war mit ihm vorgegangen. Sein ganzer Körper hatte sich schwarz verfärbt. Die Haut war schuppig. Aus seinen Poren drang eine schwarze Flüssigkeit. Ein furchtbarer Gestank ging von ihm aus.
Umberto schaufelte weiter. Das war er seinem Bruder schuldig. Er durfte nicht zulassen, daß man ihn wie den Kadaver eines Tieres einäscherte.
Als Umberto einen halben Meter tief gegraben hatte, hörte er plötzlich ein Stöhnen. Er fuhr herum und sah, wie sein Bruder sich bewegte.
Ohne zu überlegen, rannte er zu seinem Bruder. Er nahm ihn in die Arme und richtete ihn auf.
„Franko, Franko, du lebst?“
„Ja, Bruder“, sagte Franko krächzend. „Du hast mich wieder.“
Plötzlich zuckte Umberto zurück. Er betrachtete seine Hände, mit denen er Franko berührt hatte. Sie wurden vor seinen Augen schwarz, so als hätte er sie in Pech getaucht.
Umberto schrie auf und wischte die Hände im Gras ab. Aber sie blieben schwarz.
Wie von Sinnen rannte er schreiend in den Dschungel hinein. Franko folgte ihm, wimmernd und stöhnend, denn die beginnende Verwesung verursachte ihm Schmerzen.
Als die Brüder wieder zusammentrafen, unterschied sich Umberto im Aussehen kaum noch von Franko. Sie legten noch eine kurze Strecke zurück, dann wurden ihre Bewegungen immer langsamer, bis sie schließlich erstarrten.
Die Sonne war aufgegangen. Ihre Strahlen versteinerten die beiden Untoten und bleichten sie.
Marcello Sanza kam erst wieder zu sich, als der verführerische Singsang abbrach. Mit einemmal war es wieder totenstill.
Er blickte sich um und fand sich inmitten eines subtropischen Dschungels. Die fünf Männer, die mit ihm am Strand zurückgeblieben waren, umringten ihn. Sie sprachen plötzlich alle durcheinander, und aus ihren Worten ging hervor, daß sie nicht recht wußten, wie sie hierher gekommen waren. Sie hatten an die vorangegangenen Geschehnisse nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. Sie wußten nur, daß sie die Ausrüstung zusammengepackt hatten und aufgebrochen waren, als sie den süßen Gesang des Mädchens hörten. Sie konnten nicht anders, sie mußten der Stimme
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