0792 - Gruß aus der Gruft
Gespenst?«, fragte Diondra spöttisch.
»Fast.«
»Also ein Mensch?«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht von beidem etwas. Ich kann es nicht erklären. Mehr eine Vision, wenn Sie verstehen. Und diese Vision sah aus wie Sie.«
Jetzt war es heraus, und Palmer wartete darauf, wie Diondra wohl reagierte. Sie tat zunächst nichts. Sie blieb sitzen und schaute ihn an.
Dann bewegte sich ihr Mund, und die Lippen zeigten schließlich ein breites Lächeln.
»Mehr sagen Sie nicht, Diondra?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Sie sollen weitersprechen, das war doch nicht alles.«
Nein, es war nicht alles, dachte er. Es war verdammt noch mal nicht alles, aber woher wusste sie das? Warum und wieso hat sie darüber Bescheid gewusst? Ist sie denn selbst dabei gewesen? War es keine Vision, sondern Realität?
»Sie hielten etwas in der Hand, Diondra.«
»So?«
Palmer ärgerte sich darüber, dass er schwitzte. Er konnte es nicht vermeiden, allein der Blick dieser jungen Frau brachte mehr Hitze in seine Gefühle als das Kaminfeuer.
»Reden Sie doch, Professor. Wir sind hier unter uns. Nur wir beide, es gibt kein Abhörmikro. Wir brauchen kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Nur so kommen wir zu einem Ergebnis.«
Er hustete. Die Entwicklung der Unterhaltung gefiel ihm immer weniger. Diondra wusste Bescheid, davon ging er einfach aus.
Trotzdem wollte sie ihn locken, sie wollte, dass er es sagte, und sie wartete begierig darauf, denn in ihren Augen funkelte es dabei.
»Was hielt ich in den Händen?«
»Einen… einen Arm!« Er hatte die Antwort gezischt und rechnete damit, dass die Frau aufspringen würde, doch sie tat nichts. Diondra blieb sitzen, als hätte sie die Anschuldigung überhaupt nicht gehört.
Sie blickte ihn nicht einmal skeptisch an, und an seinen Worten schien sie keinen Zweifel zu hegen.
»Noch mehr?«
Palmer nickte. Bevor er sprach, wischte er mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht. »Ja, noch mehr, es war ja nicht nur der Arm, den Sie festhielten. Sie waren auch dabei, in ihn reinzubeißen. Können Sie sich das vorstellen? Sie… Sie bissen hinein. Sie rissen ihn auf, ich sah das Blut, die Sehnen, und ich das Blut auch in Ihrem Gesicht.« Er schüttelte den Kopf. »Es war furchtbar. Ein Schock. Etwas Schrecklicheres habe ich zuvor noch nie in meinem Leben gesehen.«
»Das glaube ich Ihnen.«
Er ballte die Hände zu Fäusten. »Wie, zum Teufel, kann dieses Bild entstanden sein? Wie überreizt müssen meine Nerven denn sein, dass ich so etwas sah?«
»Überreizt?«
»Ja, oder…«, dem Professor fiel der Mund zu. Er dachte nach, er dachte sogar analytisch und kam zu einem Resultat, das er mit leiser Stimme aussprach, als befürchtete er, dass jemand mithören konnte.
»Oder sollten meine Nerven nicht überreizt gewesen sein? Kann es möglich sein, dass ich mir die Szene gar nicht eingebildet habe, dass sie in Wirklichkeit existierte?«
»Was meinen Sie?«
»Ich kann es nicht glauben!«, stieß Palmer außer sich hervor. »Ich kann es nicht fassen.« Er hob seine Tasse an. Die Finger zitterten, er verschüttete Tee, was ihm jetzt egal war, und als er trotzdem trank, hatte er Mühe, die Flüssigkeit runterzuschlucken. Seine Kehle kam ihm vor wie zugeschnürt.
Diondra stand auf. »Professor«, sagte sie und kam auf ihn zu. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«
Hastig stellte er die Tasse ab.
»Ich… ich wollte nur etwas klarstellen und mir Gewissheit verschaffen.«
»Haben Sie die nun?«
»Nein, nein. Ich weiß noch immer nicht, was ich von dieser Vision halten soll.«
Sie winkte ab. »Nehmen Sie sie hin.« Diondra ging noch einen Schritt vor. Sie erreichte damit den aus dem Kamin strömenden Widerschein des Feuers, der ihre Gestalt mit einem zuckenden Mantel aus Licht und Schatten umgab.
Dem Professor kam sie plötzlich nicht nur unheimlich vor, er hatte auch den Eindruck, eine andere Person vor sich zu haben. Er wischte über seine Augen, schaute wieder hin, aber der Eindruck blieb.
Das war nicht die Diondra, die er kannte, allein der Ausdruck ihrer Augen hatte sich so seltsam verändert.
Der Professor suchte nach einer Erklärung. Es musste sie einfach geben, das sagte ihm sein analytisch geschulter Verstand. Für alles auf der Welt gab es eine Erklärung, auch für die Veränderung eines Blickes. In den Pupillen konnten sich Hass, Liebe, Trauer oder Verzweiflung abmalen. Bei Diondra war das nicht der Fall. Ihre Augen hatten einen völlig anderen Ausdruck angenommen, und über
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