0803 - Stätte der Vergessenen
vielsagend an. „Die Lockrufe der Kelsiren sind verstummt."
In der Tat, Roi hatte recht. Ich hatte zuerst nicht darauf geachtet, aber da er mich darauf aufmerksam machte, konzentrierte ich mich bewußt auf die Sirenengesänge. Sie waren nicht zu vernehmen.
„Warum verstummen die Lockrufe der Kelsiren ausgerechnet im Bereich dieses Kontinents, der von ihnen beherrscht werden soll?" wunderte sich Ras.
„Wir scheinen einem falschen Gerücht aufgesessen zu sein", sagte ich. „Aber wenn es hier keine abtrünnigen oder aus der Norm geschlagene Kelsiren gibt, wozu dann der Schutzschirm?"
„Nun", meinte Roi versonnen, „wenn er nicht dazu dient, aufrührerische Kelsiren von der Umwelt abzuschirmen, dann soll er vielleicht hier lebende Wesen vor den Sirenengesängen bewahren."
5.
Als Beiami von Heiler als gesund entlassen wurde, war er ein anderer. Er hatte ein ganzes Fest lang in der Genesungswiege gelegen und viel Zeit zum Nachdenken gehabt.
Es waren seltsame, fast blasphemische Gedanken, die ihm durch den Kopf gegangen waren, und er wußte, daß seine Gedankengänge mit denen eines Entarteten vergleichbar waren.
Hatte Bluter nicht immer befürchtet, daß er den Keim eines Kretins in sich trug?
Bluter mochte recht gehabt haben - nur fühlte sich Beiami nicht als Kretin ...
Plötzlich wußte er, daß all jene Croisloner, die gegen die herrschende Ordnung gekämpft hatten, zu Unrecht verdammt und verbannt worden waren.
Vielleicht, so schränkte Beiami ein, waren ihre revolutionären Ideen auf Croislon nicht anwendbar gewesen, aber hier, auf Belkanto, wie Beiami ihre neue Heimat nach den Beikanten nannte, war ihre Verwirklichung fürs Überleben notwendig.
Überleben um jeden Preis - wie ketzerisch! Aber Beiami fühlte sich nicht schuldig.
Kaum hatte er Heiler verlassen - da wurde dieser abgeschaltet.
Beiami hatte erfahren, daß längst auch all die anderen dienstbaren Geister der ehrenwerten Geschlechter nicht mehr angerufen werden konnten.
Vor der Genesungswiege wurde Beiami von einigen Grazil-Krummen und Purpur-Zarten mit Schmähungen empfangen.
Beiami schämte sich für das Verhalten seiner Artgenossen - früher einmal hätte er sich beschämt gefühlt.
„Verschwindet!" herrschte er die Schmäher an, was die Grazil-Krummen zu Gesten des Ekels und die Purpur-Zarten zu einem Farbenspiel veranlaßt, das ihre Empörung ausdrückte.
„Blickt in den Spiegel, die wahren Kretins seid ihr!"
Das genügte, um sie in die Flucht zu schlagen.
Beiami faßte sich nur einen heraus: Buggel, das Sippenoberhaupt der Grazil-Krummen.
Buggel schlug verzweifelt um sich, bekam hysterische Anfälle und blähte seinen Buckel angewidert auf. Beiami wartete, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte, dann fragte er: „Was werft ihr mir vor?"
„Daß du ein Kretin bist", sagte Buggel und stieß eine Reihe von Spottlauten aus. „Es ist beschlossen worden, daß du verbannt wirst.
Kein Blaß-Schöner hat dagegen gestimmt. Betrachte dich als verfemt, Beiami!"
„Große Worte!" sagte Beiami abfällig. „Aber wie wollt ihr euren Beschluß in die Tat umsetzen? Wenn ihr wollt, daß ich die Große Wiege verlasse, dann müßt ihr schon Gewalt anwenden."
„Du wirst dich nicht weigern!" stieß Buggel hervor und rang mühsam nach Atem.
„Bei allen Festen, so schlimm kann es um dich nicht stehen."
„Glaubst du wirklich? Dann lasse dich eines Besseren belehren.
Hör gut zu, was ich zu sagen habe. Ich befehle dir, daß du zu den Deinen gehst und sie in den Tempel beorderst. Und sage den anderen Führern, daß auch sie mit ihren Sippen kommen sollen."
„Du darfst nicht in den Tempel", rief Buggel verzweifelt und schlenkerte eindringlich mit seinen verstümmelten Armen.
„Dort sind die Blaß-Schönen und feiern ein Fest, bei dem ein Nachfolger für Bluter gesucht werden soll."
Beiami wußte, wie der Nachfolger für ein ausgeschiedenes Sippenoberhaupt bestimmt wurde. Nur jener qualifizierte sich, der den weisesten Nonsens von sich geben konnte und wer die originellsten Tanzfiguren ersann - und diese auch am längsten darbieten konnte.
Bluter hatte einmal stolz erklärt, daß das Fest, bei dem er gewählt worden war, dreißig Tage und Nächte gedauert hatte.
Seit damals bezeichnete man mit dem Begriff „Fest" diese Zeitspanne.
Der Gedanke an Bluter weckte in Belarni keine Sentimentalitäten.
„Führe meinen Befehl aus, Buggel", sagte Beiami drohend.
„Oder ihr ehrenwerten Geschlechter werdet mich allesamt
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